Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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Es gehörte zu den Schrullen Alexander Herzogs, daß er nie zu Bett ging, wenn sich Bettina nicht gleichzeitig zum Schlafengehen rüstete. Daran änderte die Tatsache nichts, daß sie zwei Schlafzimmer innehatten. Es herrschte dann eben keine Ordnung in seinem Gefühl. Das Hangen an Regel und Regelmäßigkeit und gemeinsame Beendigung des Tages war eine Sonderlingsleidenschaft bei ihm und für Bettina ein stetes Ärgernis. Bei aller Liebe weigerte sie sich, als lebendiges Anhängsel eines Mannes behandelt zu werden, der das Zubettgehen, Aufstehen, Spazierengehen und die Mahlzeiten mit komischer Pedanterie als Gemeinschaftsaktionen zelebrierte. Er dachte sich natürlich nichts Böses dabei. Es war eine Mischung von verschrobener Hausväterlichkeit und zärtlicher Tyrannei.

So blieb er auch jetzt, nachdem er sich von Kerkhoven getrennt hatte und in den Pavillon hinübergegangen war, im Arbeitszimmer sitzen und wartete auf Bettina. Sie war wohl noch bei Marie im Refektorium geblieben. Er unterließ es, das Licht einzuschalten. Er saß im Dunkeln, und seine Gedanken spannen in seiner halb träumenden Weise um die Erzählung Kerkhovens, die einen tiefen Eindruck auf ihn gemacht hatte. Doch als es später und später wurde und Bettina nicht kam, ergriff ihn die Ungeduld. Er ging zum Fenster und lehnte sich hinaus. Es war eine finstere Nacht, zudem etwas neblig. Kaum konnte man die Umrisse der nächsten Bäume ausnehmen. Da schallten Schritte auf dem Weg, der vom Hauptgebäude herüberführte. Endlich, dachte er. Es waren die Schritte zweier Menschen. Die beschwingten Bettinas erkannte er sogleich. Die andern waren die eines Mannes. Es konnte nur Kerkhoven sein. Alsbald hörte er auch dessen Stimme. Bettina antwortete. Sie sprachen leise. Die Worte waren nicht zu verstehen. Die Stimmen hatten einen vertraulichen Klang. Etwa zehn Meter vom Hauseingang entfernt bogen beide in den Weg zum Seeufer ein. Die Schritte verhallten. Nach einer Weile kehrten sie zurück. Die vertraulichen Stimmen erklangen wieder, entfernten sich wieder, kehrten abermals zurück; nicht schnell, nicht langsam, sondern wie die von zwei Leuten, die sich, ohne an die verfließende Zeit zu denken, über ihre persönlichen Angelegenheiten unterhalten.

Unter den Füßen der Schreitenden raschelten dürre Blätter. Bisweilen drang ein Ausruf, ein leises Lachen Bettinas zu den Ohren des angestrengt Lauschenden empor; die sonore, bald näherkommende, bald verschwimmende Stimme Kerkhovens gab zu der hellen Bettinas den Kontrabaß. Dem Horcher wurde von Minute zu Minute das Herz schwerer. Wozu hat er mir vorgeredet, er sei müde, sei nicht mehr gesprächsfähig, grollte er in sich hinein, wenn er jetzt noch mitternächtlicherweile im Garten lustwandeln kann; und sie, sie läßt alle ihre Künste spielen; daß ich da oben auf sie warte, ist ihr egal; was haben sie nur miteinander auszumachen, so spät noch, sie ist in ihn verschossen, ich weiß es ja längst, ganz närrisch ist sie mit ihm... jeder Mann läßt sichs gefallen, wenn man ihn anbetet; er ist immerhin zehn Jahre jünger als ich, er fasziniert sie, er hat so viel Lebensmaterial in sich aufgesammelt, er weiß so ungeheuer viel von Menschen und hat immer alles parat, kann alles auftischen, da hängt sie an seinen Lippen, eines Tages wird sie die Besinnung verlieren, da überlegt sie nicht lang...

Als Bettina ins Zimmer trat und Licht machte und ihn mit fahlem Gesicht, vollständig vernichtet, auf dem Diwan sitzen sah, war ihr Schrecken groß. Aber sie kannte seine Miene und sein Auge und sein beklommenes Schweigen; den stummen Vorwurf, das stumme Fragen, die kindliche Verzweiflung, das alles kannte sie und ängstigte sich davor. Es war mehr als ein Erraten, es war wie ein Austausch des Ichs. Da setzte sie sich an seine Seite, nahm ihn bei der Hand und suchte ihm zu erklären, was Kerkhoven ihr bedeutete und was sie zu ihm zog. Alles was er sich selbst gesagt hatte, was er aber jetzt, da es aus ihrem Mund kam, trotzig und mißtrauisch nicht anerkennen wollte, – ihr gegenüber nicht, das war eben der Trotz, der quälende Eifersuchtstrotz; vor sich selbst anerkannte er es in höchstem Maß, mit einer Art von Schaudern beinahe, vor sich selbst wußte er, daß er von der Lauterkeit dieses Mannes nichts zu fürchten hatte, daß dieses kristallene Wesen alle trüben Verdächte und sinnlichen Eifernisse beschämte, doch die geliebte Frau sollte keinen andern Gott haben neben ihm, auch dann nicht, wenn sie an seine eigene Göttlichkeit nicht mehr glaubte. Ach, gefallene Götter sind eifersüchtiger als thronende und wollen die Seele, die sich ihnen einmal angelobt hat, nicht mehr lassen. Dies durchschaute Bettina wohl, und sie bedauerte ihn wegen seines Zitterns um den Besitz, denn das war es ja eben, wovon sie ihn frei sehen wollte: Besitzangst, so frei wie sie selber davon war, seit Haus und Landgut und schöne Dinge und alle andere Luxuslast sie nicht mehr bedrückten.

»Du hast mir das Bild der Welt gegeben,« sagte sie, »Joseph Kerkhoven gibt mir das Begreifen der Welt. Ich brauche das eine und brauche das andere. Mir genügen nicht die Empfindung und die Farbe und die Melodie, ich muß auch die Struktur kennen. Daß mir das gewährt wird, ist ein großes Glück für mich. Ich fühle, wie es mich weiter bringt, wie es mich über das bloße Ahnen und Träumen hinausträgt. Soll ich darauf verzichten, weil du nur einen feuergefährlichen Flirt drin siehst? Das bist doch nicht du, der so kleinlich hadert. Das ist doch nicht Alexander Herzog. Das ist doch ein Pascha. Das ist doch ein Hahn.« Er lachte und schloß sie in die Arme. Doch sie wollte in diesem Augenblick nicht geherzt sein, sie machte sich etwas unmutig los, erhob sich und ging auf und ab mit Schritten wie ein Mann. »Und weißt du auch, worüber wir meistens reden?« fuhr sie mit aufflammendem Blick fort; »über dich. Von zehn Gesprächen beschäftigen sich neun mit dir. Was ich denke und tue interessiert ihn nur mittelmäßig. Du bist für ihn die erste Person. Deine Gesundheit, deine Arbeit, deine Stimmung, deine Ansichten über dies und das... dann kommt noch lange nichts, und dann komm erst ich.« – »Und dabei erfüllt er trotzdem die Funktion, die du eben so begeistert gerühmt hast...?« – »Ja. Trotzdem. Du bist der Umweg, den ich in den Kauf nehmen muß.« Jetzt war sie es, die über sein verblüfftes Gesicht lachen mußte.

Aber sein Argwohn war nicht gestillt; er glomm unterirdisch weiter, schwieg für ein paar Stunden, loderte wieder auf, umging sein Bewußtsein und schlich sich in seine Träume. »Ich ernte nur, was ich gesät habe,« sagte er einmal zu Bettina; »so viele haben aus gleichem Grund durch mich gelitten, jetzt rächen sie sich auf diese Weise an mir.«

Schuld, Schuld; alte, uralte Schuld, immer wieder. Verzagt schüttelte Bettina den Kopf.


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