Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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51

Am zweitfolgenden Tag ließ ihn Mordann zu sich holen. Die kleine Assistentin, die Kerkhoven aufgenommen hatte, Fräulein Wys-Wiggers, kam mit bestürztem Gesicht und meldete, der Patient beschwere sich tobend, weil der Professor noch nicht bei ihm gewesen sei. »Ungebärdig?« sagte Kerkhoven leichthin; »nun, wir werden ihn zur Ruhe bringen. Ist seine Tochter bei ihm? Sagen Sie ihr, ich möchte mit ihm allein sein.«

Mordann bewohnte das größte Zimmer des Hauses, ein Eckzimmer mit der Aussicht auf Garten und See. Beim Eintritt fielen Kerkhoven die zahlreichen Flaschen und Dosen auf dem Toilettetisch auf. Alle möglichen Wässer und Salben standen da beieinander, für das Haar, für den Mund, für die Zähne, für die Haut, für die Nägel, außerdem Bürsten und Bürstchen, Feilen, Scheren, Messer, Puderquasten, Parfümspritzen ; man hätte glauben können, im Ankleideraum einer Schauspielerin zu sein. Dabei herrschte die peinlichste Ordnung und Sauberkeit. Den Tag zuvor hatte Kerkhoven einen Blick in das nebenan gelegene Zimmer der Tochter geworfen; dort sah es aus wie in einer Studentenbude; überall lagen Kleider, Bücher und Hefte herum. Der Gegensatz gab zu denken.

Nach der ersten mürrischen Begrüßung, wobei er kaum die Hände aus den Hosentaschen nahm, sagte Mordann bissig: »Man kann Ihnen nicht den Vorwurf machen, daß Sie ihre Pfleglinge belästigen, geschätzter Professor. Bin ja nicht zu meinem Vergnügen hier. Schon in Berlin, vor Jahren, hat man mir von Ihren souveränen Manieren erzählt. Na, damit werden Sie bei mir kein Glück haben. Weiß nicht, warum meine Tochter gerade auf Sie versessen war. Habe mich mit euch Quacksalbern nie verstanden. Schweninger, ja. War der einzige. Kannten Sie Schweninger? Ein Genie. Hielt nichts von der ganzen Nerventherapie, der Mann, kann ich Ihnen im Vertrauen mitteilen. Wo ihn die Natur nicht stützte, ließ er die Hände weg. Na, und was werden Sie mit mir beginnen, Professor, falls Sie die Gnade haben, sich mit meinem Fall zu befassen?«

Manische Redesucht, notierte Kerkhoven im Stillen. Laut sagte er: »Sie irren, wenn Sie sich von mir vernachlässigt glauben. Es gibt auch eine mittelbare Obsorge und Beobachtung. Sie ist oft wichtiger als die direkte.« – »Ach was, medizinisches Larifari.« – »Sie sind nicht sehr höflich. Ich will mich nicht an Ihrer reichen Erfahrung messen, Herr Mordann. Wie steht es denn mit der Kopfverletzung? Verspüren Sie Nachwirkungen?« – »Ja. Bei feuchtem Wetter besonders. Der Schmerz zieht sich dann bis über die Augen. Kann nicht lesen, kann nicht schreiben. Gräßlich.« – »Es war wohl eine Fraktur?« – »Ich habe manchmal Angst, das Gehirn ist in Mitleidenschaft gezogen.« – »Dafür scheint mir kein Anzeichen vorzuliegen.« – »Können Sie das so schnell erkennen?« – »Ich denke.« – »Ein Blick, ein Nein? Zauberer? Gratuliere.« – »Darf ich sehen, wie die Wunde verheilt ist?« – Mordann setzte sich seufzend auf einen Stuhl, und Kerkhoven, vor ihm stehend, befühlte den von wolligen grauen Locken bedeckten Schädel. Seine Fingerspitzen liefen über eine feuerrote Narbe, die sich wie eine Schnur von der Kranznaht bis zur Lambdanaht zog. »Komische Hände haben Sie aber,« sagte Mordann und blickte unbehaglich an Kerkhoven empor. – »Wieso komisch? was meinen Sie?« – »Weil einem so sonderbar wird... ja, ganz komisch...« Er duckte den Kopf, um sich der Berührung zu entziehen und sprang vom Stuhl auf. »Ein bißchen Zauberer scheinen Sie ja doch zu sein... er wird einem kalt, wenn Sie einen anrühren... ich liebe das nicht... hab kein Talent zum Kaninchen... wenn Sie das wieder machen, pack ich meine Koffer.« – »Es ist mir nicht erinnerlich, daß ich mich um Ihren Besuch beworben habe,« sagte Kerkhoven kühl; »Sie müssen mir mitteilen, was Sie von mir erwarten, Nachsicht mit einem ungeduldigen Hausgast oder Behandlung eines Leidenden. Danach können Sie sich entschließen, ob Sie bleiben oder nicht.« – Mordann zuckte die Achseln. Plötzlich lachte er meckernd und hielt dabei den fetten Handrücken vor den Mund, eine Gewohnheitsgeste, durch die er seine kariösen Zähne verbarg. »Sie haben Recht,« sagte er, »ich bin ein Greuel. Nichts für ungut, Professor, mir wurde gar zu übel mitgespielt. Also legen Sie los. Wahrscheinlich wollen Sie doch Verschiedenes wissen. Übrigens kann ich nicht leugnen, daß Sie mir imponieren. Was wollen Sie wissen?« – »Erzählen Sie mir, wie der Überfall vor sich ging. Wurden Sie gewarnt? Waren Ihnen die Leute oder einer von den Leuten bekannt?« – »Nein. Es war Nacht. Eine Regennacht. Halb drei. Ich war im Presseklub. Fuhr mit einem Taxi bis Halensee und wollte dann zu Fuß nachhause. Pflegte das seit dreißig Jahren zu tun, wenn ich abends ausging. Die einzige Leibesbewegung, die ich mir gestattete. Was wollen Sie, ein Sklave der Feder, mitleidswerte Kreatur. Gewarnt? Ja doch. Freunde warnten mich. Erhielt auch anonyme Drohungen. Glaubte es verachten zu sollen. Hybris. War nie feig in meinem Leben. Ich ging also unter meinem Regenschirm, rasch, wie es meine Art ist, da, zwischen Herbert- und Lynarstraße standen auf einmal vier Kerle um mich herum, alle in gelben Windjacken, vier, merken Sie wohl, derlei Burschen wagen nur was, wenn sie nichts wagen, die Gesichter könnt ich nicht ausnehmen, eh ich noch einen Gedanken fassen oder um Hilfe rufen konnte, hatt ich schon eins überm Kopf, daß ich alle Engel im Himmel jubilieren hörte. Dann lag ich wie ein Haufen Kleider auf dem Pflaster. Sie dachten wohl, es sei aus mit mir, die Meuchler. O, die Meuchler, die Schandbuben, das Mordgesindel! Und glauben Sie etwa, man hätte sich bemüht, sie dingfest zu machen? Alle Recherchen – Spiegelfechterei. Man wollte die Sache vertuschen und im Sand verlaufen lassen. So sieht der Dank Deutschlands aus gegen den Mann, der achtunddreißig Jahre lang seine Augiasställe gesäubert hat. Dessen verrückte Leidenschaft es war, den Drohnen, Sykophanten und Blutsaugern das dunkle Handwerk zu legen und mit der Pechfackel in die Kamarillen hineinzuleuchten, von denen eine die andere ablöste wie die Eitergeschwüre, in der Monarchie wie in der Republik, im Frieden wie im Krieg. Das ist der Dank. Das ist der Dank!«

Die Stimme überschlug sich. Ihr tonloses Krähen hatte nichts Menschliches mehr. Das Gesicht war fahlgelb. Heller Schweiß perlte auf der gebuckelten Stirn. Kerkhoven sah nicht klar: war die Empörung echt oder gefiel sich der Mann in der Raserei? Schwer zu unterscheiden. Manches sprach für die Annahme, daß da ein unheimlich großartiger Komödiant eine meisterhafte Szene spielte. Aber zu welchem Ende? Für welches Publikum? Nur um den Arzt zu täuschen oder zu verwirren, der zudem in seiner Meinung gewiß nicht sonderlich hoch stand? Hier war ein Rätsel, das zu lösen verführerisch war. Eine neue Figur, eine noch unerforschte Seelenverfassung.

Offen zutage lag die Angst. Das Attentat, abgesehen von dem physischen Schaden, mußte einen fürchterlichen Eindruck auf ihn gemacht haben. Es hatte vor allem einen unheilbaren Bruch des Selbstbewußtseins zur Folge gehabt. Aber bei diesem Gedanken stieß Kerkhoven auf eine Schwierigkeit. War dieses Selbstbewußtsein nicht schon in der Anlage verzerrt und handelte es sich nicht vielmehr um eine der Formen von pathologischer Eitelkeit, die das moralische Wesen austilgt, um es in ein spinnenhaftes, frevlerisch autonomes Geistwesen zu verwandeln? Deshalb auch die völlige Abwesenheit jeden Schuldgefühls, der tolle Wahn des Literaten, der das Bild der Welt in Händen zu haben vermeint, wenn er heimlich ihren Spiegel zertrümmert hat. Erleuchtung über Erleuchtung für den Arzt Kerkhoven...


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