Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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Und es nützte auch nichts, daß sie dem Doktor Hansen auswich, wo sie nur konnte. Und daß sie ihm, wenn er sie dennoch zu Begegnungen und Erörterungen zwang, das Törichte, Verwegene, Aussichtslose seines Beginnens vorhielt. Er hörte ihr zu zerknirscht, gierig, andächtig und ließ nicht ab. Er verfolgte sie auf Schritt und Tritt. Auf rätselhafte Weise wußte er immer, wo sie war. Er telefonierte, um ihr irgendwelche, manchmal ganz belanglose Nachrichten zu übermitteln. Er schickte ihr Blumen, die sie zurückwies. Er schrieb ihr Briefe, deren Adresse mit der Maschine geschrieben war, damit sie sie öffnete. Es waren Liebesbriefe, in einer maßlosen Sprache, einem überspannten Ton abgefaßt, ohne daß die Grenze des Respekts, ja der ehrfürchtigen Bewunderung überschritten war. Doch aus seiner verbissenen Entschlossenheit, sie zu gewinnen, machte er kein Hehl: »und wenn ich Ihnen bis nach Grönland folgen müßte und wenn zehn Jahre Zuchthaus darauf stünden.« Ein Wahnsinniger, dachte sie und wußte nicht, wie sie sich seiner erwehren sollte. Eines Sonntags nachmittags, als er sie wieder einmal telefonisch um eine Unterredung gebettelt hatte, ließ sie ihn kommen. Sie hatte Angst vor der Begegnung, aber sie vertraute der natürlichen Überlegenheit, die ihr ein klarer Kopf über einen Besessenen gab. Wider Erwarten betrug er sich ruhig und gelassen. Nur in seinen Augen loderte bisweilen die unheimliche Flamme auf. Anderthalb Stunden redete er ausschließlich von sich, von seiner Jugend in einer herabgekommenen, innerlich verfaulten Bürgerfamilie, von seiner Einsamkeit, seinem verödeten Leben, seinem Unglauben an Menschheit, Welt und Gott und Wissenschaft und daß ihm als einzige Rettung aus diesem Zustand, immer am Rand des Selbstmords, diese unselige Leidenschaft in die Brust geworfen worden sei. »Sie werden sagen, es ist ein typisches Schicksal für einen typischen Menschen,« fuhr er fort, ohne sie einen Augenblick zu Wort kommen zu lassen, »gut, aber ich versuche wenigstens mein letztes, Frau Marie... nein, zucken Sie nicht zusammen, erlauben Sie mir den Namen auszusprechen... selbstverständlich. Sie können mich zertreten, wie eine Laus, was bin ich denn wert... aber bedenken Sie, daß ein Mensch, wie ich ohnehin erstickt unter dem Fluch seiner Gewöhnlichkeit oder wenn Sie wollen Typischkeit, unter dem Fluch des Berufs...« »Fluch des Berufs,« warf Marie erstaunt ein. – Er lächelte kränklich. »Ja, Fluch des Berufs. Ich weiß, ich rede zu Joseph Kerkhovens Frau. Aber was bedeutet ein Schiller gegen einen kleinen Zeilenschinder? Was haben wir Nichtse von den Schillers? Und schließlich ist jeder Schiller ein unheilbarer Phantast, wenn nicht ein Scharlatan, der den Leuten Sand in die Augen streut. Charakter, ja; wer hat Charakter? wer sich ihn leisten kann. Kleinzeug wird zermalmt. Und wenn Kleinzeug sich mal aufrafft und nach einem Stern langt, na, dann sieht es eben aus, wie ich aussehe.«

Die offensichtliche Wollust der Selbsterniedrigung und Selbstzerfleischung wirkte wie eine persönliche Schmähung auf Marie. Sie konnte ihm in ihrem Innern nicht Unrecht geben, wenn er seine Existenz als trostlos, sich selbst als hoffnungslosen Fall bezeichnete. Aber sie hatte mit einem Menschen dieser Art noch nie zu tun gehabt. Sie wußte keinerlei Zuspruch. Jedes Argument erschien ihr so verlogen wie wenn sie einem Krüppel hätte sagen sollen: du brauchst dich nur zu recken und bist kein Krüppel mehr. Und ihre Neigung, Krüppel pädagogisch zu behandeln, war gering. Dem Mitleid konnte sie sich nicht verschließen. Aber Mitleid ist eine Form der Verachtung und das war der einzige Punkt, wo Eugen Hansen die Beherrschung verlor. Was ihn außerdem rabiat machte, war ihr Wohlfahrtswerk. Sie setzte ihren Adel, ihre Freiheit, ihre weibliche Persönlichkeit aufs Spiel, kurz alles, was sie über diese Schand- und Schundwelt erhebe; er habe neulich von einem kostbaren Juwel geträumt, das in einer Schachtel voll Kot lag; die psychoanalytische Anwendung liege auf der Hand. Dann schwieg er und sah sie mit dem bohrenden Mannsblick an, der ihr eiskalt machte und die Schamröte in die Wangen trieb.

Alles blieb stumm und kritisch in ihr. Sie brachte ihn nicht über die Verfinsterung und Verzweiflung hinaus. Sie konnte ihm nicht helfen. Sie war zu armselig, auch hier.


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