Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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Es war höchst eigentümlich: seit dem Verlust des Manuskripts, mit demselben Tag fast, hatten die Feindseligkeiten gegen Seeblick aufgehört. Wie mit einem Schlag, wie auf Befehl. Und nicht nur das; es kamen Leute aus der Gegend, Frauen, Familienväter, junge Arbeitslose, die von allerlei kleinen Übeln geheilt werden wollten, Geschwüren, Verdauungsstörungen, Bleichsucht, Rheumatismus, Gallenbeschwerden und so weiter. Täglich erschienen sie zu Dutzend im Sprechzimmer und warteten geduldig, bis sie vorgelassen wurden. Es gemahnte Kerkhoven an die Anfänge seiner Praxis. Aber wenn er damals, als junger Arzt, freudlos und handwerksmäßig die Heilung dieser uninteressanten Leiden betrieben hatte, der höheren Berufung gewärtig, so empfand er sie jetzt durchaus als das Richtige und Würdige, vielleicht sogar als das dem Sinn des Arztseins am meisten Entsprechende. Es war die Rückkehr zum Einfachen; Aufhebung vielfacher kleiner Not und Gefahr und Verhütung größerer; es lag mehr Liebesdienst und -lohn darin als in der Behandlung jener komplizierten Fälle, bei denen einem der ganze Reichtum des Wissens nicht hinweghalf über den Zweifel an der Wissenschaft, geschweige denn, daß sich das ewig verhüllte Geheimnis der Natur erschloß, trotz allem Belauern, Vergleichen, Experimentieren und Messen, trotz aller Kunst und Intuition. Hier konnte er fühlen und befühlen und auch wirklich helfen. Er hatte vollständig vergessen, was für eine ungeheure Sache es war, körperlichen Schmerz zu lindern oder gar ihn zum Verschwinden zu bringen. Er hatte vergessen, wie dankbar die Augen eines Kindes strahlen können, wenn man ihm eine blutende Wunde verbindet; wie ergreifend das Vertrauen einer Mutter war, wenn sie ihren bis auf die Knochen abgezehrten Säugling brachte; wie tief die Erkenntlichkeit eines mit Brandwunden Bedeckten, wenn man ihm Erleichterung von seiner Qual verschaffte. Und das war möglich; es war weder schwierig noch problematisch; man war dann nichts weiter als ein Sanitätssoldat in dem Dauerkrieg, in welchem das Volk mit seinen Lebensplagen liegt. Im Volk aber ist jede Krankheit, mag sie noch so schrecklich sein, etwas viel Wahreres, ja Elementareres als in den oberen Schichten, für deren Leiden der Körper oft genug nur Vorwand ist.

Kerkhoven wollte sich den neuen Anforderungen nicht entziehen, obgleich er den bisherigen häufig nicht mehr zu genügen vermochte, dem beständigen und täglich noch wachsenden Zustrom von Hilfsbedürftigen und Ratsuchenden aus aller Herren Länder. An manchen Tagen überstieg die rein physische Leistung seine Kräfte; er brach zusammen, freilich so, daß es niemand merkte, wie ein müder Hund in seine Hütte kriecht, bevor er sich ausstreckt. Die morsch gewordenen Stützen gaben nach. Um sie zum Aushalten zu zwingen, gab es nur das eine Mittel; dem Todeswillen des Blutes die Todesverneinung der Seele entgegenzusetzen, insofern nämlich der Tod sich anmaßte, gegen den Willen und die Bereitschaft der Seele in ihre innere Sternenbahn einzubrechen; insofern ihm überhaupt eine andere Wirklichkeit zukam als die auf dem Seinswahn beruhende.


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