Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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Dann kam ein Tag, da Kerkhoven bei Alexander Herzog erschien, um ihn zu einem Spaziergang abzuholen. Sie schlugen den Weg in den Wald ein und rasteten auf einer Höhe. Herzog konnte nicht lang marschieren; während des Gehens stellte sich ein stechender Schmerz im rechten Fuß ein, seit Monaten schon. Er hatte Kerkhoven bisher nichts davon gesagt. Auf der Bank im Wald bat ihn Kerkhoven, Schuh und Strumpf auszuziehen und kniete nieder, um den Fuß zu untersuchen. Er strich mit sachten Fingern über den Knöchel und den Rist, drückte auf die Adern und sagte: »Sie sollten aufhören zu rauchen. Sie rauchen zu viel.« Alexander schwieg. Es fiel ihm schwer, von seinen Gewohnheiten zu lassen. Er war den Stimulantien versklavt. Kerkhoven wußte es. Warnung und Vorhalt fruchteten in solchen Fällen nicht. Und hier im besonderen nicht, wo ein trüber Fatalismus die Zukunft unverführerisch machte. Außerdem gibt es für den Phantasiemenschen keine Zukunft als die des nächsten Augenblicks. Eigentümlich genug, aber es ist so. Das ist das Unmoralische an ihm.

Diese Ansicht verhehlte Kerkhoven nicht. Sie gerieten in ein schwieriges Gespräch über Selbstbeherrschung. Alexander gab offen zu, daß er sich niemals darin geübt habe; im täglichen Leben nämlich, die Arbeit habe allen Vorrat an Selbstbeherrschung aufgesogen. »Ich fürchte, Sie haben es nie verstanden, die Arbeit in Harmonie mit ihrem Leben zu setzen,« bemerkte Kerkhoven. Alexander Herzog fand die Behauptung etwas kühn. »Man muß sich nach dem Wichtigen richten,« antwortete er achselzuckend. – »Ja, aber das Gefährliche bei unseren Tätigkeiten ist die einseitige Belastung,« sagte Kerkhoven, »sie erzeugt Überverbrauch. Nerven und Organe lassen sich nicht auswechseln wie abgenutzte Schienen. Und ein totes Geleise verrostet.« – »Das sind ärztlich-technische Gesichtspunkte,« replizierte Alexander Herzog, »wer nach ihnen lebt, mag so alt werden wie Methusalem und wird doch keine Spuren hinterlassen.« – »Kann sein,« sagte Kerkhoven spöttisch, »in der Theorie hört sich das ganz gut an, aber wenn die Schmerzen kommen, verzagen sogar die Michelangelos, hat man mir erzählt.«

Damit begann es. Wie man bei einer Hochtour anfangs mühelos über Matten und gebahnte Pfade wandert bis sich allmählich die Felsenwelt auftut und Gras und Baum verschwinden, die Wege steiler werden, Geröll und Moränen sich ausbreiten, eine Wand, ein Kamin erklettert, ein Grat überquert werden muß und endlich die Gipfel hervortreten, Gletschergetürm und ewiger Schnee: so fing es an, so setzte es sich fort, ein leidenschaftliches großes Ringen, wechselndes Führen und Geführtwerden, Nebeneinandergehen in Nebel und Steinschlag, Hinaufklimmen von Absatz zu Absatz, Umkehren und neuer Versuch, Verirren in Sturm und Gewölk und neuer Anstieg, immer zwischen Leben und Tod und zwischen Himmel und Erde, das war das Geschehen, das haben wir in der Folge zu berichten.


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