Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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Eines Tages wagte Kerkhoven die vorsichtige Frage: »Sie sind zum Bewußtsein Ihrer Freiheit wohl noch gar nicht gekommen?« – »Meiner Freiheit? meiner Freiheit? bei Gott, nein.« Die Antwort klang müde und resigniert. – »Warum eigentlich nicht? alles hat sich doch aufs günstigste gestaltet. Feierliche Rehabilitierung. Die Wege ins Leben wieder offen...« Imst schüttelte den Kopf und bemerkte trüb: »In was für ein Leben, bitte? wozu trampelt man denn in dieser blödsinnigen Welt herum? was fang ich denn an mit der Freiheit? hat ja keinen Sinn, hat ja gar keinen Sinn.« – »Aber soviel ich sehe, macht es Ihnen Spaß, Schachprobleme zu lösen,« warf Kerkhoven lächelnd ein; »das ist doch auch, wenn nicht ein Sinn, so doch ein Reiz.« – »Vielleicht. Aber es könnte ja einer den eigenen Kot fressen, um nicht zu verhungern. Das beweist nicht, daß es ihm schmeckt.«

Als sie am andern Tag vor dem unvermeidlichen Schachbrett einander gegenüber saßen, sagte Kerkhoven nach langem Schweigen: »Wenn der Springer nach f2 zieht, droht Matt in zwei Zügen, scheint mir.« – Imst, den Kopf zwischen beiden aufgestützten Händen, blickte überrascht empor. »Sie verstehen sich ja drauf,« sagte er anerkennend; »leider ist der Zug bloß eine Verführung; der König kann dann den Läufer schlagen.« Ein schwach vernehmliches Husten drang aus Jeanne Mallerys Zimmer herüber. Kerkhoven machte ein verwundertes Gesicht, so als wüßte er nicht, daß sich eine Matratze zwischen den Türen befand. Er ging hin, öffnete die Tür, besah sich die Füllung, murmelte gedehnt: »Hm... ach so« und schloß die Tür wieder. Dann kehrte er an den Tisch zurück und tippte mit dem Zeigefinger auf Imsts Schulter. »Für die Frau da drinnen muß etwas geschehen,« sagte er, »die siecht uns unter den Händen hin.« – Imst schwieg. – »Das Ding dort bedeutet wohl noch was anderes als einen Lärmschutz?« forschte Kerkhoven. Und da Imst den Mund nicht auftat: »Was geht denn zwischen euch vor? Ich denke, Sie sind mir eine Erklärung schuldig.« – Imst starrte regungslos auf Kerkhovens mächtige Hände, die gegen die Tischplatte gestemmt waren. »Ich möchte es nicht, Herr Professor. Verzeihen Sie, ich möcht es lieber nicht erklären,« murmelte er. – »Auch nicht, wenn man ihr damit helfen könnte?« – »Kann man nicht, Herr Professor. Niemand kann helfen.« – »Wer weiß. Vielleicht Sie selber. Jedenfalls ist die Behandlung, die Sie ihr angedeihen lassen, reichlich brutal.« – Imst zuckte zusammen wie unter einem Nadelstich. – Kerkhoven setzte sich an seine Seite und sprach leise: »Sie lieben sie nicht mehr. Gut. Daraus kann man Ihnen keinen Vorwurf machen. Aber schließlich hat die Frau alles Unglück mit Ihnen geteilt, und die einfachste menschliche Rücksicht...« – »Es hat keinen Zweck, mich ins Kreuzverhör zu nehmen,« unterbrach ihn Imst mit ebenso leiser Stimme. »Sie sind sehr freundlich zu mir, Herr Professor. Ich bin kein undankbares Aas. Nur in dieser Sache... es liegt nicht an mir, kann ich Ihnen sagen.« – »Ich dachte an eine sexuelle Störung, wie sie in solchen Fällen häufig aufzutreten pflegt,« sagte Kerkhoven. – »Davon habe ich mich noch nicht überzeugen können,« war die kaum hörbare Antwort. – Kerkhoven war frappiert. »Dann bleibt nur noch eine Möglichkeit,« fuhr er grüblerisch fort, ohne die gequälte Miene Imsts zu beachten, »Sie machen Jeanne Mallery unbewußt für das Geschehene verantwortlich. Sie wollen sich unbewußt an ihr rächen. Daß sie die schuldlose Verursacherin ist, wissen Sie zwar, aber haben Sie sich in der Zelle nicht immer wieder vorgesagt: wäre die Jeanne nicht gewesen, alles wäre anders gekommen? Ich stelle mir vor, daß dieser Gedanke Sie überhaupt nicht mehr verlassen hat, daß er Sie unaufhörlich verfolgt hat.« – »Daran ist was Wahres,« gab Imst finster-erstaunt zu, »wie können Sie das wissen?« – »Weil es ein elementarer Trieb in uns Menschen ist, den Schwerpunkt der Verantwortung zu verlegen.« – »Wie meinen? Das versteh ich nicht ganz.« – »Denken Sie ein wenig darüber nach.« – Imst zog den Tabaksbeutel aus der Tasche und stopfte mit erkünsteltem Phlegma die Pfeife. Seine Finger zitterten. Plötzlich brach er dumpf-verzweifelt aus: »Sie kommt nicht von der Selma los! Kommt und kommt nicht los! Leben Sie einmal mit einer Toten, Herr Professor! Zu dritt mit einer Toten!« Da gingen Kerkhoven die Augen auf.


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