Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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Ängstlich vermied es Kerkhoven, Alexander Herzog zu überfallen. Er ließ ihn frei. Er verhielt sich abwartend. Er hütete sich vor merkbarer Beobachtung. Er überschritt nicht die Grenzen gesellig-freundschaftlichen Verkehrs. In den ersten Tagen wußte er sogar das Alleinsein mit ihm zu verhindern und schien, wenn er eine unbeschäftigte Stunde hatte, die Unterhaltung mit Bettina vorzuziehen. Da er in seinem Betragen den tiefen Respekt betonte, den er gegen den Menschen und Schriftsteller Alexander Herzog empfand, mußte dieser glauben, Kerkhoven wage nicht die Schranke zu durchbrechen, die er rücksichtsvoll zwischen sich und ihm aufgerichtet hatte. Doch ihn verlangte nach der Schranke nicht. Er wünschte sie zu beseitigen, war aber zu scheu und zu unentschlossen dazu. Bettina, die ihm hätte behilflich sein können, tat nichts dergleichen, und er grollte ihr deshalb. Die diplomatische Reserviertheit Kerkhovens erregte nach und nach eine quälende Spannung in ihm als wäre eine Falle dahinter verborgen, sah er doch überall Gespenster. Es kam so weit, daß ihm das Herz bis in die Kehle hinauf klopfte, wenn er Kerkhoven im Haus oder im Park begegnete und dieser mit einem artigen Gruß an ihm vorüberging. Er will mich aushungern, der gute Professor, dachte er dann, er will mich präparieren, damit ich ihm ein gefügiges Objekt abgebe, ich werde ihm aber einen Strich durch die Rechnung und mich aus dem Staub machen.

Vielleicht hätte er diesen Vorsatz in seiner nervösen Empfindlichkeit und Ungeduld auch ausgeführt, wenn Marie nicht gewesen wäre. Zwischen ihm und Marie hatte sich mit dem ersten Blick und Händedruck eine jener geheimnisvollen Beziehungen entwickelt, die ohne Austausch von Worten, ohne sogenannte nähere Bekanntschaft sogleich in voller Kraft und mit natürlicher Selbstverständlichkeit von beiden Partnern aufgenommen werden. Es ist nicht eine neue Begegnung, es ist ein Wiederfinden als hätte einer den andern lange Zeit im unendlichen Raum umkreist bis das Gesetz der gegenseitigen Anziehung ganz von selbst die physische Nähe erzwingt. Es gab da keine Neugier, nicht das kleine Geplänkel des Einandererforschens, sie sprachen und betrugen sich von der ersten Stunde an wie Geschwister, völlig unkonventionell, völlig locker und gelassen. Alexander sagte in seiner lakonischen Weise zu Bettina: »Eine wunderbare Person, diese Marie Kerkhoven«; (welchem Urteil Bettina durchaus zustimmte; auch ihr hatte es Marie angetan); und Marie, nicht ganz so enthusiastisch, sagte zu ihrem Mann: »Dieser Alexander Herzog ist ein Mensch nach meinem Geschmack, er macht einen warm« (was den freundlichen Beifall Kerkhovens fand). Mit dieser zwiefachen Anerkennung vor den maßgebenden Instanzen war zugleich eine loyale Übereinkunft verbunden und ein stillschweigender Bund nach außen hin kundgegeben.

Marie war es also, die Alexander Herzog in Schach hielt und vor übereilten Schritten bewahrte. Dabei muß bemerkt werden, daß sie sich instinktiv hütete, mit ihm über seine Lebensverhältnisse zu sprechen. Zwar gestand sie ihm, nicht ohne begreifliche Scheu, daß sie seine Bekenntnisse gelesen habe; sie wollte nicht mit verdeckten Karten spielen; jetzt, da sie ihn selbst kannte und sich mit solcher Schnelligkeit ein Freundschaftsverhältnis gestaltet hatte, durfte sie ihm ihr Wissen nicht vorenthalten; es wäre unehrlich gewesen. Er zeigte sich auch weder erstaunt noch verstimmt, er ging einfach darüber hinweg. Sie ließ es sich zur Lehre dienen. Hätte sie insistiert und die Wunde durch noch so zarte Berührung zum Bluten gebracht, so hätte sie ein noch kaum aufgekeimtes Gefühl verletzt. Sie hatte somit keine Wahl. Sie mußte sich gedulden. Es war auch nicht ihres Amtes, ihn, zu dem sie doch verehrend aufblickte, wie einen seelisch Notleidenden zu behandeln, wenn er es auch tatsächlich war. Sie durfte sich vor allem nicht in das Geschäft eines Berufeneren eindrängen, Joseph Kerkhovens. So bewegten sich ihre Gespräche vorspielhaft im Unpersönlichen, falls sie sich nicht über Kerkhoven, über Aleid oder über Bettina unterhielten. Eines Morgens hatte sie Bettina beim Geigenspiel belauscht. Sie erzählte es ihm mit tiefer Ergriffenheit. Sie habe nicht geahnt, sagte sie, daß in einer Frau so viel Musik sein könne. Sie sei vollständig verzaubert gewesen als hätte sie einen Engel singen gehört. »Aber verraten Sie mich nicht,« fügte sie besorgt hinzu, »es war sehr früh am Tag, sie hat sicher nicht an einen Zuhörer gedacht; vielleicht war es darum so schön.« Alexander lächelte und versprach zu schweigen. Er sagte nur: »Ich bin glücklich, daß sie spielt. Da regt sich doch wieder was in ihr.«


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