Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

145

Marie faltete nur stumm die Hände, als Kerkhoven ihr das Geschehene mitteilte. Da Kerkhoven hinlänglich Zeit gehabt hatte, sich zu fassen, ließ sie sich von seiner Ruhe täuschen. Aber es war etwas in seinen Augen, was ihr bange machte, und gewisse zerfahrene Gesten, die er hatte, flößten ihr Schrecken ein. Sie erkannte, daß er sich mit übermenschlicher Gewalt zusammennahm. Wenn er doch den Tisch und das Geschirr zerschlüge, dachte sie, wenn er doch zu schreien begänne und uns allesamt aus dem Haus jagte; statt dessen geht er herum wie mit einem Knebel im Hals und mit Bleikugeln an den Füßen. Und immer der perltröpfige Schweiß auf der Stirn, und daß er mit der Zungenspitze die Lippen näßte, – was war das? was bedeutete es? Um ein Maß dafür zu gewinnen, was er empfinden mußte, stellte sie sich vor, ein Kind sei ihr gestohlen worden. Gestohlen und getötet. Sie schauderte. Er erriet ihren Gedanken. Vor ihr stehend legte er die Hand auf ihr Haar, bog ihren Kopf zurück, fing ihren Blick und sagte: »Überschätzen wir das kleine Malheur nicht. Was nicht da ist, Werk oder Mensch, wird nicht entbehrt. Alles Existierende betrügt uns durch seinen Schein von Notwendigkeit. Die lebendige Welt ist ein Bauch mit einem ungeheuern Verdauungsapparat. So oder so tragen wir zur Ernährung bei. Glaubst du, jede neunte Symphonie und jede erlösende Erkenntnis tritt ans Licht? Es genügt, wenn sie entstehen. Das andere ist eine Fügung für sich. Der Auftrag, der mir abgenommen wird, fällt einfach dem zu, der nach mir kommt. Es geht nichts verloren. Nur in meinem egoistischen Gefühl geht es verloren. Das muß man verwinden. Na, und was die Geldkalamität betrifft, darüber lassen wir uns doch keine grauen Haare wachsen, du und ich. War noch schöner!«

Sie riß seine Hände an ihren Mund und küßte sie abwechselnd, viele Male.

Aber da war noch Alexander Herzog, da war noch Bettina. Bei Alexanders Veranlagung mußte man schlimmer Wirkungen gewärtig sein. Er fühlte sich wahrscheinlich wie ein Aussätziger. Und Bettina, so phantasievoll wie leidenschaftlich in ihrem inneren Anteil, stand plötzlich, so sah es Marie, in einem seltsamen Konflikt zwischen dem Gatten, den sie schuldig finden mußte, trotzdem sie mit ihm litt, und dem Freund, dem solches Unglück widerfahren war eben durch seine vertrauende Freundschaft für sie und Alexander. Aus dieser Verwirrung gab es schier keinen Ausweg. Schon bei ihrem ersten Gespräch mit den beiden glaubte Marie wahrzunehmen, daß eine Kluft zwischen ihnen entstanden war, eine von keinem eingestandene Entfremdung, von Alexander dumpf, von Bettina klar gespürt, war es doch als ob sie eine unsichtbare Waage vor sich hingestreckt hielte, in deren Schalen zwei Seelen lagen, die sie stumm versunken gegeneinander abwog. Auf welche Schale sie den Blick richten würde, die war die schwerere, die würde niedersinken, darum hielt sie auch, furchtsam und ahnungsvoll, die Augen geschlossen. Dieses Bild hatte Marie deutlich vor sich, und sie wandte sich erschrocken ab, weil es unheilvoll und unendlich schmerzlich war.


 << zurück weiter >>