Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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An einem Donnerstag in der zweiten Novemberwoche wurde Kerkhoven dringend nach Basel berufen. Es handelte sich um eine traumatische Gehirnblutung bei einem noch jungen Mann, einem Privatdozenten an der Universität. Dieser, seit langem mit Kerkhoven bekannt und Bewunderer seiner wissenschaftlichen Arbeiten, beherbergte zufällig einen deutschen Gast bei sich, den Chef eines Verlagshauses für medizinische Literatur, namentlich aller Spezifika über Nervenheilkunde. Es fügte sich, daß Kerkhoven mit ihm ins Gespräch kam und ihn beiläufig fragte, ob er sich für den Druck seines Werkes interessiere und zu welchen Bedingungen er das Buch übernehmen würde. Die finanzielle Lage Kerkhovens hatte sich in den letzten Monaten beträchtlich verschlechtert, mit einer Honorarzahlung von sechs- bis achttausend Mark glaubte er rechnen zu dürfen, am fünfzehnten war eine Hypothekarschuld fällig, das Geld auf andere Weise flüssig zu machen, sah er keinen Weg. Der Verleger erklärte sich ohne Zaudern bereit; das Kerkhovensche Buch wurde in Fachkreisen schon lange mit Spannung erwartet, einzelne Fragmente, die in Zeitschriften veröffentlicht worden waren, hatten Aufsehen erregt, und das Angebot des deutschen Herrn, der Betrag sollte sofort nach Unterschrift des Kontraktes gezahlt werden, entsprach ungefähr der Summe, die Kerkhoven hatte fordern wollen. Es sei am besten, die Sache noch heute ins Reine zu bringen, schlug er Kerkhoven vor, morgen trete er eine Reise nach Südfrankreich an und sei in den nächsten Wochen schwer zu erreichen; wenn er das Manuskript zur Abschätzung des Umfangs und der Bogenzahl für eine Stunde haben könne, stehe dem sofortigen Abschluß des Geschäfts nichts im Wege. Kerkhoven fiel ein Stein vom Herzen, er hatte auf eine so rasche Erledigung nicht zu hoffen gewagt, die einzige Schwierigkeit war, wie er noch heute das Manuskript herbeischaffen sollte; es selbst zu holen, war, abgesehen von der physischen Anstrengung, nicht möglich, da er den Tag über in der Nähe des Patienten bleiben mußte, ein vertrauenswürdiger Bote war nicht gleich aufzutreiben, so ließ er sich mit Seeblick verbinden und fragte Marie, nachdem er ihr mit ein paar Worten den Sachverhalt erklärt hatte, ob sie ihm nicht die Liebe erweisen und mit dem Manuskript nach Basel kommen wolle; es liege in der Mittellade seines Schreibtischs; besondere Vorbereitungen seien ja für die dreistündige Bahnfahrt nicht vonnöten.

Unglücklicherweise lag Marie an diesem Tag mit einer schweren Migräne im Bett. Kerkhoven wußte es nicht, da er schon um sieben Uhr früh das Haus verlassen hatte. Sie sagte: »Ich kann nicht, Lieber, ich lieg im finstern Zimmer und kann mich nicht rühren, ich will Bettina Herzog bitten, sie wird es sicher mit Vergnügen tun, um zwölf geht der Zug, um halb vier hast du das Manuskript auf jeden Fall.« Als sie abgeläutet hatte, schickte sie ihr Mädchen in den Pavillon hinüber. Zweites Verhängnis: Bettina war mit Helmut über den See nach Radolfszell gefahren, um den schönen Tag auszunützen. Marie überlegte. Aleid kam nicht in Betracht; sie war nicht verläßlich, und Marie wollte sie um nichts bitten. Die Schwester Wys-Wiggers war unabkömmlich. So blieb nur Alexander Herzog; daß er zuhause war, hatte ihr das Mädchen mitgeteilt. Die Frage war nur: durfte sie sich getrauen, eine so große Gefälligkeit von ihm zu fordern? Doch sie hatte keine Wahl; daß Joseph das Manuskript noch am Nachmittag erhielt, war wichtig, auch sie wurde ja dadurch von einer Sorgenlast befreit; sie selber war nicht einmal imstande, den Kopf aus den Kissen zu erheben, geschweige denn eine Reise zu machen; sie entschloß sich demnach zum Unvermeidlichen, schickte abermals in die Herzogsche Wohnung und ließ Alexander zu sich bitten. Er folgte dem Mädchen auf dem Fuß. Er trat in den verdunkelten Raum und fragte ängstlich, was ihr fehle. Sie beruhigte ihn mit mühselig erzwungenem Lächeln. Er stand am Fußende des Bettes und sah sie an, voll stummer Verehrung und hilflosem Mitgefühl. Sie konnte nur ganz leise sprechen. Als sie ihm, unter vielem Stocken und vielen Entschuldigungen auseinandergesetzt hatte, worum es sich handle, daß es ein unaufschiebbarer Dienst sei, den sie und Joseph von ihm erbäten und sie niemand andern habe, fiel er ihr fast ungestüm in die Rede und sagte, darüber sei kein Wort zu verlieren, wenn sie von einer Dienstleistung spreche, beschäme sie ihn, er wäre ohnehin an einem der nächsten Tage nach Basel gefahren, um einen Freund zu besuchen, sie möge das Manuskript verpacken lassen und es ihm hinüberschicken, Haus und Straße, wo er es Joseph auszuhändigen habe, werde er sich notieren... Eine halbe Stunde später saß er im Zug.

Halten wir diese ebenso kleinlichen wie verwickelten Umstände zusammen, so stellt sich der Verlust der Kerkhovenschen Handschrift als eine geradezu diabolische Fügung dar. Umsomehr, als Alexander Herzog im alltäglichen Leben sonst keineswegs zerstreut oder geistesabwesend war. Im Gegenteil, er pflegte Aufträge, mit denen man ihn betraute, mit einer fast pedantischen Genauigkeit auszuführen, derart, daß er während dieser Zeit kaum an etwas anderes denken konnte und unter einem übertriebenen Gefühl von Verantwortung litt. Oft war es vorgekommen, wenn er mit Bettina in einer Stadt weilte, daß sie ihn ersucht hatte, mehrere Einkäufe für sie zu besorgen. Er schrieb dann alles auf einen Zettel, aber das verlieh ihm durchaus noch keine Sicherheit; er mußte beim Gehen beständig in die Tasche greifen und sich überzeugen, ob der Zettel noch vorhanden war. Und hier hatte er ja nicht einen Zettel oder sonst einen leicht verlierbaren Gegenstand zu verwahren, sondern ein vier bis fünf Pfund schweres, ziemlich umfangreiches Paket, dessen Inhalt er kannte, von dessen Unersetzlichkeit er wußte, hatte er doch vor kurzem, nach dem nächtlichen Brand, Kerkhoven ernstliche Vorwürfe gemacht, weil dieser eine Arbeit von solchem Ausmaß und solcher Bedeutung nicht mechanisch vervielfältigen ließ; er hatte es als Leichtsinn bezeichnet, aber Kerkhoven hatte gelacht und das Shakespearewort zitiert: it is a special providence in the fall of a sparrow; wenn ein Sperling seine besondere Vorsehung habe, warum nicht das Werk eines Lebens? Er konnte damals nicht ahnen, daß dieses Werk durch eine Häufung aberwitziger Zufälle ihm für immer entrissen werden sollte, um im Nichts zu verschwinden.


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