Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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Schon seit einer Reihe von Tagen hatten die Bewohner von Seeblick gespürt, daß die feindselige Stimmung ringsum im Lande in beständigem Wachsen war. Das böswillige Gerede wucherte wie Unkraut; nicht wahrscheinlich, daß Karl Imst, der bei einem Kollegen, einem Apotheker in Steckborn, Aufnahme gefunden hatte, der alleinige Urheber war. Die Verbrüderung mit dem Pharmazeuten war möglicherweise nicht ganz zufällig, denn diese Herren waren dem Professor Kerkhoven bei seiner bekannten Abneigung gegen Rezepte und Medikamente nicht grün. Jedenfalls ließ sich dem Imst nichts Faktisches nachweisen, nur die Hartnäckigkeit, mit der sich das Gerücht behauptete, die Jeanne Mallery werde in der Anstalt gefangen gehalten und grundlos als Geistesgestörte behandelt, deutete auf seine rachsüchtigen Umtriebe hin. Die Machenschaften waren ja auch nicht jüngsten Datums. Bereits nach dem plötzlichen Tode Martin Mordanns, hatte sich übelwollendes Gemunkel erhoben, bestärkt durch versteckte Anklagen, die von gewissen Klüngeln im Reich ausgingen. Wie wenn Kerkhoven als notorischer Reaktionär und mit seinen nicht sehr geordneten Finanzen ein handgreifliches Interesse daran gehabt hätte, den berühmten Journalisten verschwinden zu lassen; man habe ihm sozusagen mit dem goldenen Zaunpfahl gewinkt. Es war nicht ausgeschlossen, daß Agnes Mordann vor ihrem Selbstmord Andeutungen in dieser Richtung gemacht und damit die überall noch vorhandenen Parteigänger ihres Vaters aufgestachelt hatte. Das bodenlose Geschwätz erhob sich jetzt von neuem, und fast sah es aus, als stünde der Besuch zweier Herren, die in diesen Tagen wegen der verbrannten Brederodeschen Briefe bei Kerkhoven erschienen, im Zusammenhang damit; (wir werden auf das kleine Intermezzo zurückkommen).

Noch andere Umstände traten hinzu. Da war vor allem die Waldläuferschule, die Anstoß erregte. Nicht leicht zu begreifen, warum. Man hätte denken sollen, die Leute wären froh, ihre streunenden und unterstandslosen Kinder ein paar Stunden im Tag gut aufgehoben zu wissen. Hatte doch Marie eigens für diesen Zweck eine stattliche Halle gebaut, mit Turngeräten, abgeteilten Werkstätten und einer bescheidenen Bibliothek. (Das Geld dazu, ihr erinnert euch, hatte sie von ihrer alten Freundin, Frau de Ruyters, erhalten.) Aber die Anstalt war ja nicht jenen ein Dorn im Auge, die ihren Vorteil daraus zogen, sondern den Satten, die ihrer nicht bedurften, den Wohlanständigen und Konservativen, kleinen Kaufleuten und Beamten. Die zerrissen sich die Mäuler; wozu brauchen wir solch modernes Gehabe und Gewese, sagten sie, das geht gegen die Ruhe und Ordnung, begünstigt die Landstörzerei und düngt den Boden für den Bolschewismus. Wir sehen also, daß Kerkhoven von der einen Seite der Rückschrittlichkeit und von der andern gleichzeitig des Demagogentums geziehen wurde. Was hat überhaupt der Fremde in unserer Gegend zu suchen? äußerten sich etliche; wo kommt er her? er soll wieder dorthin gehn, von wo er gekommen ist, wir haben selber unsere Doktoren, urchige Kerle darunter, was muß sich ihnen der chaiwe Schwab in den Pelz setzen?

Es kam so weit, daß ein Teil der Hausangestellten stutzig wurde und manche den Dienst verließen. Jeden Tag trafen anonyme Briefe mit der Post ein. Die Lieferanten drängten auf Bezahlung ihrer Rechnungen. Als dies ohne Zögern geschah, zogen sie beschämt ab. In dem »Boten für Stadt und Land«, einem vielgelesenen Provinzblättchen, erschienen von Zeit zu Zeit perfide kleine Schmähartikel oder angebliche Mitteilungen aus dem Publikum, in denen von der Seelenheilküche und Nervenakrobatik eines verstiegenen Aftermediziners die Rede war, vor dem man den gesunden Sinn des Volkes zu bewahren habe. Und eines Tages, in der dritten Oktoberwoche, schoß dieser famose Stadt- und Landbote seinen stärksten Giftpfeil ab, indem er verkündete, unter andern unliebsamen Zuzüglern befänden sich im Hause Seeblick auch ein bekannter bücherschreibender Herr samt Frau Gemahlin, gegen den, soviel man höre, in Berlin ein Prozeß wegen Bigamie anhängig sei. Der gedruckte Wisch wurde Alexander Herzog zugeschickt. Er beriet sich mit Kerkhoven. Man ging der Sache nach. Offenbar hatte Ganna Herzog durch einen ihrer Späher von dem Aufenthalt Alexanders und Bettinas Wind bekommen. Daß sie die Zeitungsmeldung selbst lanciert hatte, war nicht anzunehmen, da sie ja dadurch auf die sogenannte Versöhnung mit Alexander, die zu erreichen sie neuerdings alle Hebel in Bewegung setzte, hätte verzichten müssen. Vermutlich hatte ein literarischer Neider, der seine Mißgefühle brieflich verspritzte, die Hand im Spiel. Alexander blieb gelassen. Doch um den frechen Angriff zu parieren, beauftragte er einen Züricher Advokaten, von der Redaktion förmlichen Widerruf zu fordern, widrigenfalls die Verleumdungsklage eingebracht würde. Woraufhin eine dürftige, aber sachlich zufriedenstellende Berichtigung erfolgte. Das hinderte aber nicht, daß die lichtscheuen Umtriebe gegen Seeblick ihren Fortgang nahmen. In der Nacht vom fünfundzwanzigsten auf den sechsundzwanzigsten Oktober wurden an der Schmalfront des Hauptgebäudes sämtliche Fenster im Erdgeschoß eingeschlagen und zwei Dutzend Rosenstöcke aus den Beeten gerissen.


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