Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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Keine Wiedergabe dieser Vision könnte dem Eindruck auch nur nahekommen, den sie auf die Zuhörer übte. Das übergroße Gesicht der Hellseherin mit den verloschenen Zügen; die schlaffe, schläfrige Stimme; das scheue Dasitzen wie wenn sie jemand mit Gewalt auf den Sessel niedergedrückt hätte und festhielte; die fleischigen Hände, die unbeweglich auf den dicken Schenkeln lagen; dazu nun der Bericht eines sechseinhalb Jahre alten Geschehens, so als ob es sich in der gegenwärtigen Stunde zutrüge; mit einer Fülle verblüffender Einzelheiten, von denen bis jetzt kein Mensch Kenntnis gehabt noch Kenntnis hätte erlangen können; die unheimliche Richtigkeit des geschilderten Charakters, sowie die sich aufdrängende Wahrheit der Situation, die innere wie die äußere: das alles hätte den Kaltblütigsten aus dem Gleichgewicht bringen müssen, es wirkte wie die Aufhebung der Gesetze von Zeit und Raum, Vergangenheit war Täuschung, Ursache und Folge waren anders geschaltet, das Leben bekam unter diesem Schaupunkt ein anderes Antlitz; auch Kerkhoven war nicht völlig imstande, seine ärztliche Gelassenheit zu bewahren. Jeder spürte, daß das Geschick zweier Menschen an dieser Stunde hing. Mehr noch: der wahnhafte Irrtum von der Heiligkeit der geltenden Rechtsnormen wurde erschüttert.

Wenn es sich bestätigte, daß die Schachtel, in der das Gift gewesen, in das Kaminloch geworfen worden war, hatte man damit ein schwerwiegendes neues Beweisstück zustandegebracht, wie es das Gesetz zur Wiederaufnahme des Verfahrens forderte. Und um es gleich vorwegzunehmen: drei Wochen später, als der von der Unschuld der Verurteilten noch immer überzeugte Anwalt auf Grund des Kerkhovenschen Protokolls Nachforschungen in der gewiesenen Richtung anstellte, wurde das corpus delicti an dem bezeichneten Ort wirklich entdeckt. Es lag ganz hinten an der Mauer, unter einer dicken Russchicht begraben. Das Haus gehörte immer noch dem Apotheker Imst; seit der Verhaftung des Besitzers war es unbewohnt; niemand hatte es mieten wollen. Der Fund erregte sowohl bei den Gerichten wie im Publikum das größte Aufsehen; jedenfalls war er geeignet, die Einseitigkeit und Nachlässigkeit, mit der der voruntersuchende Richter seines Amtes gewaltet, ins Licht zu stellen. Nicht nur hatte er sich nicht um Aufklärung bemüht, woher der oder die Täter das Gift genommen, aus der Apotheke oder aus einem schon vorhandenen Vorrat, und wohin sie es nach dem Gebrauch geschafft hatten, er hatte nicht einmal eine gründliche Durchsuchung des Hauses veranlaßt. Allerdings konnte die Schachtel auch von Karl Imst oder der Mallery in das Kaminloch geworfen worden sein; wenn man sich gegen die mediale Entschleierung des Falles überhaupt skeptisch verhielt, lag dieser Einwand nahe genug und wurde auch vielfach erhoben, zumal während der Zeit, da weit schlagendere Angaben des Protokolls noch nicht bekannt waren. Das überraschendste unter diesen neuen Fakten war, daß Selma Imst kurz nach der Scheidung von ihrem Gatten ein Verhältnis mit einem zwanzigjährigen Studenten gehabt hatte, einem Griechen, und daß sie damals angefangen, Arsen zu essen, hauptsächlich, um ihre körperliche Liebesfähigkeit zu steigern. Ein solcher Anwurf gegen eine Frau, deren sittliche Reinheit vom Untersuchungsrichter wie vom Staatsanwalt immer mit besonderem Nachdruck betont worden war, wog natürlich außerordentlich schwer. Die Erhebungen wurden mit Umsicht und Eifer gepflogen, und abermals ergab sich ein beispielloses Versäumnis des Vorprozesses: die Angaben der Thirriot bewahrheiteten sich Punkt für Punkt. Die Freundin, bei der Selma in Aarau gewohnt hatte, mußte einräumen, daß diese häufig von einem jungen Mann besucht worden war; der Name des Studenten ließ sich nicht mehr ermitteln, er war im Frühling 1926 mit unbekanntem Ziel abgereist, aber nicht nur fanden sich in dem Quartier jener Freundin, in einer Kiste, die man auf dem Dachboden verstaut hatte und die allerlei Briefe und Dokumente enthielt, die der Selma Imst gehörten, einige Zettel sehr intimen, sehr verräterischen Inhalts; es lag auch bei den Akten ein anonymer Brief, geschrieben drei Tage vor der Urteilsfällung, worin der Schreiber dem Gericht mitteilte, er habe die Verstorbene aus vertrautestem Umgang gekannt, und nach allem, was er von ihr wisse, könne er die Meinung nicht verhehlen, daß sie durch Selbstmord geendet habe; der Hang hiezu sei tief in ihrem Gemüt gelegen, eine ihrer stehenden Redensarten sei gewesen, wenn sie ein gewisses Ziel nicht erreiche, werde sie sich an dem Tag umbringen, an dem sie einsehen werde, daß es keine Hoffnung mehr für sie gebe. Unbegreiflicherweise war dem Brief keinerlei Beachtung geschenkt worden; nicht einmal dem Verteidiger war er wichtig genug erschienen, sich darauf zu berufen und seinen Verfasser ausforschen zu lassen. Für Kerkhoven stand es fest, daß es dieser geheimnisvolle junge Mensch war, der die Selma Imst zum Giftgenuß verführt hatte, wahrscheinlich infolge seiner eigenen perversen Veranlagung, und durch diese wieder war es ihm gelungen, eine Person mit so übermäßig stark entwickeltem Willen in seinen Bann zu schlagen, trotz des großen Altersunterschieds und trotz ihres prüden und vorurteilsvollen Charakters.

Da die ganze Art der Enthüllungen der Thirriot ein Zurückgehen vom Ende gegen den Anfang war, also analytisch Motiv an Motiv kettend, konnten ihrer merklichen Erschöpfung wie auch der Fülle des Stoffs halber verschiedene Umstände bei dieser Sitzung nicht völlig sichergestellt werden, unter anderm der schon während des Prozesses so oft erörterte Zeitpunkt der zweiten Gifteinnahme, jener Portion, die sie in dem Papiersäckchen aufbewahrt und im Nachttisch verborgen hatte. Offenbar hatte sie sie als Reserve zurückbehalten, falls sich die zuerst eingenommene Menge als ungenügend erwies, sie zu töten. Welche Entschlossenheit! welche Raserei! welche teuflische Planmäßigkeit! Denn daß ihr Tun auf einem vorher bis ins Kleinste überlegten Plan beruhte, darüber ließ die Darstellung der Thirriot keinen Zweifel aufkommen; das allermerkwürdigste an ihrem Bericht war ja die Abneigung, ja das unverhohlene Grauen, mit welchem sie von der Selma Imst sprach, obgleich sie den eigentlichen furchtbaren Antrieb zu dem Selbstmord nur immer allgemein umschrieb als scheue sie sich, in diesem Punkt präzis zu sein. Gerade das Verdeckte und bei aller Schonung Durchsichtige wirkte aber auf die Zuhörer mit der Wucht eines unmenschlichen Vorgangs, namentlich auf Marie; Schwester Else hatte es im Grunde schon geahnt, für sie war es nur die ausdrückliche Beglaubigung ihres Gefühls; Marie war jedoch so erschüttert und verstört, daß sie nach Beendigung der Sitzung, obwohl es schon weit nach Mitternacht war, ihren Mann bat, ihr noch eine halbe Stunde Gesellschaft zu leisten, sie könne nicht zu Bett gehen, ohne mit ihm gesprochen zu haben. Im übrigen sei erwähnt, daß die Thirriot am andern Tag eine Reihe schwerer Ohnmachtsanfälle erlitt und deshalb an eine Wiederholung des Versuchs vorläufig nicht gedacht werden konnte. Eine solche fand erst viele Wochen später im Beisein mehrerer Advokaten und Sachverständigen statt.


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