Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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Wenn sie es nicht als Seelenwerk betrachten konnte, fehlte von vornherein der Antrieb. Die Leidenschaftlichkeit, die ihr eigen war, verlieh ihrem Unternehmen schon mit dem ersten Schritt einen andern Charakter als den einer philantropischen Fleißaufgabe. Lauheit und Halbheit waren ihr so zuwider, daß ihre Nerven nur dann in Schwingung kamen, Körper und Geist nur dann gehorchten, wenn sie restlos, ja mit einer gewissen Trunkenheit in einer Idee, einer Tat, einer Liebe, einem Menschen aufgehen konnte. Und sie gehörte zu der Gattung Frauen, die seelisch hinwelken, wenn ihnen das Leben solchen Rausch versagt. Dazu kam die ruhelose Wißbegier, die bei ihr der unterste Grad aller Sympathie-Entzündung war. Packen, aufschließen, hineinschlüpfen, bewegen, bewegt werden, danach regelten sich ihre Beziehungen zu Menschen überhaupt, und in diesem Fall besonders. Daher war es nicht immer der unmittelbare Druck einer schlimmen Situation, der sie zum Einschreiten veranlaßte, sondern ihr fast unbewußt, das Auge, der Blick, die Stimme des betreffenden Kindes, ein Etwas von Persönlichkeit, von Differenziertheit, und das war von Übel, es schuf Konflikte und trübte ihr Urteil.

Zudem mußte sie sich überzeugen, daß die körperliche Versorgung allein weder für sie befriedigend noch für ihre Schützlinge, wenigstens für den Durchschnitt förderlich war. Es war nicht viel geleistet, wenn man sie von Schmutz und Ungeziefer befreit, sie in reinliche Kleider und reinliche Betten gesteckt und die hungrigen Mäuler mit anständiger Nahrung gestopft hatte. Auch damit nicht, daß man ihnen Zerstreuungen bot, Geschichten vorlas, sie zu Spielen anregte und in Kindergärten schickte. Es waren Kunstgriffe. Genau genommen Erleichterungen für die Obsorger. Ein Sichherumdrücken war das Eigentliche. Es blieben immer zwei Bezirke, die keine Berührung miteinander hatten. Das eisig trennende war nicht zu überbrücken. Es lag nicht an den Jahren oder an den Kastenunterschieden oder den eingefleischten Vorurteilen oder an der Bequemlichkeit hier und der geschlechterlangen Unterdrückung und Entbehrung dort; es lag tiefer. Marie kam nicht dahinter. Sie dachte sich das Hirn wund und kam nicht dahinter, woran es lag.


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