Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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Eines Tages Ende Dezember erhielt er folgendes Telegramm aus Lugano: »Mein Vater Martin Mordann hat schweren Nervenzusammenbruch erlitten. Erbitte Drahtbescheid, ob Sie ihn in Anstaltsbehandlung nehmen wollen. Agnes Mordann.«

Während er die Depesche mehrere Male mechanisch las, überlegte er. Auch einer von den Gestrandeten der alten Ära, dachte er stirnrunzelnd; was will er bei mir, was soll ich mit ihm? ein solches Geschick läßt sich nicht aufhalten; es ist morsch und zum Untergang reif, daran rühren heißt Flickschusterei treiben, und gerade das hab ich mir doch verschworen...

Hier scheint uns ein kurzer Kommentar notwendig. Vor zwanzig, vor fünfzehn Jahren noch war der Name Martin Mordann das Banner einer großen Partei von Unzufriedenen gewesen, der lärmendste journalistische Ruhm der Kaiserzeit. Sein Aufstieg hatte um die Wende des Jahrhunderts begonnen. In ihm verkörperte sich der Geist der rücksichtslosen Opposition, der leidenschaftlichen Verneinung. Unleugbar hatte er eine gewisse Verwandtschaft mit Rochefort, dem Mann der Pariser »Lanterne«; die ihm schmeicheln wollten, nannten ihn auch den nordischen Aretin. Das Verdienst konnte ihm nicht abgesprochen werden, daß er mit oft bewundernswerter Furchtlosigkeit grobe politische und gesellschaftliche Mißstände aufgedeckt hatte; andererseits war seine Zeitung der geometrische Ort der meisten Skandale, die innerhalb dreier Jahrzehnte die deutsche Welt erregt und beunruhigt hatten. Wenn man von einem giftigen Feuer sprechen könnte, so entfachte er es mit seiner Feder. In den Artikeln, die er schrieb, paarte sich Geschmeidigkeit des Stils mit einer geradezu furiosen, hohnvollen Erbitterung. Seine Feinde waren deshalb Legion. Besonders in gewissen vaterländischen Gruppen war sein Name verfemt, der Haß gegen ihn unauslöschlich. Jetzt erinnerte sich Kerkhoven auch, daß er vor ein paar Wochen von einem nächtlichen Überfall gelesen hatte, der in Berlin gegen ihn verübt worden war. Der in dem Telegramm erwähnte Nervenzusammenbruch war vermutlich die Folge davon.

Nach einigem Zögern entschloß sich Kerkhoven zu einer zusagenden Antwort. Für ihn als Arzt gab es keinen triftigen Grund, seine Hilfe zu verweigern. Zwei Tage darauf traf Mordann mit seiner Tochter im Haus Seeblick ein; so hieß die Kerkhovensche Heilstätte.


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