Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

110

Während eines schweren Gewitters, um die Dämmerungsstunde, saß sie bei Aleid in deren Zimmer. Aleid hatte die Ellbogen auf den Fenstersims gestützt; den Kopf vorgestreckt, starrte sie mit einer Miene in den lodernden Himmel als wolle sie die Blitze trinken. In einer Pause zwischen zwei Donnerschlägen sagte sie mit ihrer brüchigen, heiseren Stimme: »Blödsinnig, sich mit einem Schlafmittel umbringen zu wollen. Damit macht mans den Herren Doktoren bequem. Schließlich kann man doch Veronal nicht pfundweise fressen.« – Marie begnügte sich zu antworten: »Deine Natur hat es besser mit dir gemeint als dein Verstand.« – »Natur!« spottete Aleid; »meine Natur gibt mir nichts vor. Wenn ich was von ihr haben will, muß ich mit ihr raufen. Genau so wie mit dir.« – »Aleid!« – »Es ist doch so. Immer die sittlichen Standpunkte. Gräßlich.« – »Sie haben dir ja das Herz zerstampft, da draußen,« sagte Marie. – Aleid lachte knurrend in sich hinein. Aus einer tintenschwarzen Wolke flammte ein glühend-violetter Blitz in den schäumenden See. Mit einem tiefgeatmeten Ah beugte sie sich aus dem Fenster und nickte, gleichsam einverstanden mit dem gewaltigen Krachen des Donners. »Vom Blitz erschlagen zu werden, stell ich mir weitaus am angenehmsten vor,« sagte sie versonnen, »aber das ist ein Glücksfall, mit dem man nicht rechnen kann. Danach... wart mal, was käme noch in Betracht? sich von einem Turm herunterstürzen. Oder von einem Flugzeug. Herrlich. Durch die Luft schweben und wissen, in fünf, in zehn Sekunden ist alles zu Ende. Herrlich.« – »Du redest wie eine Verrückte,« sagte Marie gepreßt. – »Und wenn schon? was ändert das an der Ursache, was änderts am Effekt?« – »Ist denn das Leben zu nichts gut als zum Wegwerfen?« – »Zu nichts, Mutter, zu nichts.« – »Und fühlst du dich für nichts in der Welt verantwortlich?« – »Nein. Für nichts.« – »Aber das Kind in deinem Leibe?« – »Hach... darauf hab ich nur gewartet. Hab ichs gerufen? brauch ichs? brauchts sonst wer? Es gibt dir wohl noch zu wenig verfehlte und überflüssige Existenzen? Da siehst du ja, daß deine sogenannte Natur so dumm wie ein Vieh ist.« – »Und das sagst du deiner Mutter?« – »Ja, denk dir. Wenn du damals gewußt hättest, was für ein jämmerliches Geschöpf du in die Welt setzen wirst, hättest du dir die Enttäuschung und mir den ganzen Rummel ersparen können.« – Marie erhob sich jäh. »Das ist frevelhaft!« rief sie aus, »man muß dich verabscheuen...«

Eine Zeitlang herrschte Schweigen. Das dem Unwetter zugekehrte Gesicht des jungen Mädchens leuchtete wie weißer geschliffener Stein. Sie hatte das Kinn auf die verschlungenen Hände gestützt. Auf einmal murmelte sie: »Ach, Mutter, mir graut so, mir graut so...« – Marie näherte sich ihr zögernd, beinahe furchtsam. Es drängte sie, Aleid die Hand auf den Kopf zu legen, doch es zu tun kostete einen Entschluß. Aleid blickte neugierig empor. »Wenn ich nur wüßte, wie du bist,« sagte sie leise, sich der Berührung unmerklich entziehend, »ich habe keine Ahnung... alles an dir ist mir ein Rätsel, deine Ehe, dein Wesen, dein Leben.« – »Ich bin wie ich bin,« sagte Marie verschlossen. – »Na wie denn? gut? nicht wahr, gut? Was verstehst du denn darunter? Doch nur einen abgeklärten lauen Mischmasch, so was wie Arznei, nein? Was hab ich denn davon? Zeig mir doch einen Weg aus den hunderttausend Lügen heraus, dann will ich glauben, daß hinter dem Gutsein was steckt. Also?« – »Ich weiß nicht, was dahintersteckt,« antwortete Marie, »vielleicht nur der Schmerz über das Schlechtsein.« – »Solche Pastorensprüche machen mir keinen Eindruck,« höhnte Aleid; »sag offen und ehrlich: ich kann dir nicht helfen, ich muß dich zugrundegehn lassen, ich kann dir höchstens dein Bett und dein Essen und die paar Fetzen zum Anziehn geben und Schluß. Alles andere ist Quatsch.« Sie sprang auf, lief zu der offenen Fenstertüre, die in den Garten führte, und als sie draußen war, beugte sie den Kopf in den Nacken und ließ den Regen über ihr Gesicht strömen. Marie machte ein paar Schritte wie um ihr zu folgen, blieb aber in Gedanken verloren stehen.


 << zurück weiter >>