Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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Obwohl am Anfang des Verfahrens auch die öffentliche Meinung noch schwankte, ob Mord oder Selbstmord vorlag, nahm der Untersuchungsrichter den Mord als gegebene Tatsache an und ging in seinen Nachforschungen und Inquisitionen von der unerschütterlichen Überzeugung aus, daß über die Schuld der beiden Verdächtigten nicht der leiseste Zweifel obwalten könne. Daher wurden sie nicht als Häftlinge behandelt, denen das Verbrechen erst nachgewiesen werden mußte, sondern von der ersten Stunde der Haft bis zum Wahrspruch der Geschworenen, acht Monate lang, als überführte Giftmörder. Es wurden ihnen keinerlei Erleichterungen gewährt. Sie durften keine Bücher lesen. Sie bekamen keine Wäsche, keine Seife, keine Extrakost, und als im Januar strenge Kälte einbrach, mußten sie frieren. Umsonst bemühten sich die Freunde von Imst und Jeanne Mallery, wenigstens ihre physische Lage zu verbessern, der untersuchende Richter, in seiner Voreingenommenheit, verschloß sich jeder menschlichen Regung, lehnte sämtliche Bittgesuche ab, war gegen alle Vorstellungen taub. Er konnte es, er durfte es, es war seine Befugnis. Das aber war nur der äußere Rahmen einer geradezu mittelalterlichen Tortur, der das unglückliche Paar unterworfen wurde. Zu schweigen von den persönlichen Herabwürdigungen, Beleidigungen und Drohungen, mit denen er sie zu einem Geständnis zu zwingen suchte, hatte er sich eine Taktik von Fangfragen zurechtgelegt, durch die sie sich ahnungslos in Widersprüche verwickelten. Die unschuldigste Äußerung wurde ihnen so lange im Mund verdreht und wieder und wieder vorgehalten, bis sie sich in ein Indiz verwandelte; keine Zeugenaussage, die nicht eine absichtliche Mißdeutung erfuhr; verdächtig, daß Imst den Arzt nicht rechtzeitig berufen; verdächtig, daß Jeanne die Kranke gepflegt hatte; verdächtig das eine Mal die Schweigsamkeit des Mannes nach dem Tod der Gattin, das andere Mal, daß er da und dort zu viel geredet. Und was er geredet; an jede Silbe sollte er sich erinnern, an jeden Blick und jeden Schritt; irrte er, versagte sein Gedächtnis, war es ein Schuldbeweis. Erregung war Schuldbeweis, Fassung war Schuldbeweis, die verhetzte Stimmung in der Stadt: Schuldbeweis; das Umstellen eines Möbelstücks im Vorzimmer, drei Tage vor dem Tod: Schuldbeweis; dadurch nämlich habe man Platz für das Hinaustragen des Sargs schaffen wollen! Daß er den bedenklichen Zustand der Kranken nicht erkannt zu haben behauptete; daß er im Gegensatz zu einigen Zeugen nicht bemerkt haben wollte, daß die Sterbende in den letzten Stunden weiße steife Hände mit blauen Fingernägeln gehabt; daß Jeanne Mallery nicht sagen konnte, ob sie an dem Nachmittag, da die Frau über quälende Schmerzen geklagt, Tee oder Kaffee gekocht und, als sich endlich herausgestellt, daß es Kaffee gewesen, warum Kaffee und nicht Tee; daß sie nicht wußten, wer die Apotheke zuletzt betreten, wer zuletzt mit dem vorrätigen Arsen zu tun gehabt: das alles bildete ein hinterhältiges System des Erwischenwollens und der Einschüchterung, wovon die verhängnisvolle Folge war, daß der objektive Tatbestand immer mehr verdunkelt und jedes der unzähligen, zu jeder Stunde des Tages und der Nacht ohne Rücksicht auf die seelische und körperliche Verfassung der Angeschuldigten vorgenommenen Verhöre in eine Kette von immer wiederholten Einzelfragen zerlegt wurde. Dadurch verloren sich allmählich die wesentlichen Spuren des Geschehens, zum Beispiel die Herkunft des Giftes, der Aufbewahrungsort und die Zeiten der Einnahme, die Krankheitserscheinungen und ihre Steigerungen. Ebensowenig wurden die anklägerischen, zum Teil offensichtlich unwahren Äußerungen im Tagebuch der Frau Imst ernstlich nachgeprüft; der Sachverhalt lag ja vermeintlich klar zutage: auf der einen Seite ein schmählich betrogenes, in seiner Ehre gekränktes und mißhandeltes Weib, ein edles und von hoher Pflichttreue erfülltes Wesen, Opfer seiner Gattenliebe, auf der andern ein roher Trunkenbold und seine gewissenlose Mätresse, der als einziges Ziel vorschwebte, den unsittlichen Bund zu legitimieren, selbst auf Kosten eines Verbrechens, und die den willensschwachen Mann dahin zu bringen wußte, das unbequeme Hindernis ihres Ehrgeizes zu beseitigen. So war die Auffassung des Volkes, so die des Gerichts und der Geschworenen; vergeblich die feierlichen Unschuldsbeteuerungen der beiden Angeklagten, vergeblich die scharfsinnigen und überzeugenden Plaidoyers der Verteidiger, vergeblich die Warnung einzelner Besonnener vor einem ungerechten Spruch, das lebensvernichtende Urteil wurde gefällt, Imst und Jeanne Mallery wanderten in ihr steinernes Grab, und die Welt, von kurzem Gedächtnis, wie sie ist, schien ihrer alsbald vergessen zu haben.


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