Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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Da fragte sie sich, woran fehlt es mir? was macht mich so schwach, unzulänglich und zauberlos? In den Nächten ihres einsamen Grübelns verspürte sie eine Leere in sich, einen Hohlraum. Sie hatte die Empfindung, daß dort, wo Wachstum und Fruchtbarkeit hätten sein sollen, steinige Dürre war. Wenn sie nachforschte, seit wann es so war, konnte sie keine Zeit in ihrem Leben finden, da es anders gewesen wäre. Kein Zweifel, das Leben, das sie gelebt, war allmählich unter ihr verkohlt, und die verkohlte Masse hatte die Keime getötet. Wohl hatten der Seelen- und Sinnenaufruhr der letzten Jahre und die entscheidende Auseinandersetzung mit Joseph auflockernd gewirkt und sie aus der selbstsüchtigen Leidensversenkung herausgeführt. Ein Gefühl der Befreiung war da; es war als hätte sie einen Raum verlassen, dessen Wände, Decke und Fußboden aus Spiegeln bestanden. Doch hatte sie nicht die Gesetzlosigkeit dafür eingetauscht, die Willkür eines Lebens, dem sie gestattet hatte, ihr nah zu rücken? Das geht, man kann das Leben hautnah an sich herankommen lassen, man soll es vielleicht, aber dann muß man den Mut haben, der vor nichts zurückschreckt, vor keiner Bedrohung und vor keiner Demütigung. Statt dessen hatte sie gegen Zweifel und Angst anzukämpfen und konnte den Sinn des Neuen nicht in sich finden, der sie geschützt hätte wie eine Festung. Ihr bangte nach der leitenden Hand, unter der sie sich zu bergen gewohnt war. Aber bei ernstlicher Prüfung erkannte sie, daß sich diese Sehnsucht nicht auf den abwesenden Kerkhoven bezog; sie ging vielmehr auf halb erloschene Erinnerungen zurück, auf vergessene Träume, unterdrückte Regungen von jugendauf, unbeantwortet gebliebene Fragen, einst leuchtend gewesene und dann verblaßte Bilder, eine Herzensnot, ein verwehtes Bild, ein in Schatten gesunkenes Gesicht.

Manchmal verspürte sie eine fremdartige Glut in sich. Es war ein Gefühl wie Verliebtheit in einen Unbekannten und setzte sie in Verwirrung. Sie mußte sich gestehen, daß nach und nach alles versagt hatte, worauf sie sich hoffend und gläubig gestützt, die Hingabe an Menschen, die kleine Werktätigkeit im Hause, die Liebe zur Kunst, die Bücher, sogar die Natur, mit der sie so lange in vertrautem Umgang gelebt. Aber nicht aus persönlicher Enttäuschung, nicht weil sie resignierte und sich fallen ließ, suchte sie einen Zugang in einen neuen Bezirk, der ihr vorläufig so verschlossen war wie eine Landschaft auf dem Mond. Es geschah in ihr. Es setzte sich gewissermaßen gegen sie selber durch. Es vollzog sich im Auftrag der Zeit und beschwert von deren grenzenloser Not. Unter den Menschen, die um uns leben, gibt es welche, die sind wie Uhrzeiger. Sie melden die geistige Stunde. In aller Stille sammelt sich in ihnen, was als Wunsch und Entbehrung unergründet in der Brust von Zahllosen wohnt. Wie diese hatte sie gedankenlos darüber hinweggelebt, jetzt hingegen litt sie bis zu körperlicher Qual an der Aufblicklosigkeit ihrer Welt, ihrem kahlen Zweckdienst, ihrer Verwilderung, ihrem Haß, ihrer Blutgier und ihren Lügen. Schon im Zusammenleben mit Joseph hatte sie manchmal diese würgende Weltangst empfunden, trotz der Reinheit seines Wollens, trotz seiner Opferbereitschaft und Geistesmacht. Wohin, Mann? hätte sie ihm zurufen mögen, du bist ja behext, hast ja keinen Himmel über dir, keinen Anhalt außer dir, keine Mitte in dir! Sie hatte Erbarmen mit ihm gehabt. In einem Brief, den sie ihm zu Anfang des Sommers schrieb, kam die Stelle vor: »Es ist zu wenig los mit dem irdischen Dasein, es ist zu wenig los mit der Menschheit. Bei nur einigem Nachdenken stößt man auf allen Seiten auf die Frage: wo geht es weiter? wo ist der Sinn, wo die Erfüllung? damit wie es ist kann es unmöglich sein Bewenden haben, es wäre ein zu stümperhaftes, zu unseliges Werk.«

Was sie so drängend gegen das Unaussprechliche hinauftrieb, gegen ein oberes Herrschendes, dunkel Gewußtes, war durch und durch chaotisch, getragen allein von einem Enthusiasmus, der als uferlose Flut in ihr strömte. Sie hatte keinen Namen dafür, vielmehr sie wagte nicht, ihm einen zu geben. Nannte sie es Gott, was war damit gesagt? Ein Hilfswort, von Jahrtausenden zerlaugt, zerdacht, entzaubert; Gesicht und Gestalt bekam es dadurch nicht, es blieb ein geisterhafter Strahl, ein Sternenblick. Dieses Zurückweichen vor der Wesenserfassung lähmte wieder das Verlangen in ihr, die widerstrebende Kreatur neben sich, alle diese verlorenen Väter, Mütter und Kinder, in die Arme zu schließen und emporzutragen, wenn nicht zu Gott, der war ja nirgends anzutreffen, außer vielleicht in der unvorstellbarsten Versenkung, so doch in das göttliche Vorreich. Denn dieser Begriff, »das Göttliche«, war nicht so schaurig fern, grenzte nicht so ans Unerdenkliche wie das Bild von Gott, das zu schauen dem Menschen nicht die Fähigkeit verliehen war.

Man kann sich leicht den kühnsten religiösen Spekulationen überlassen, wenn sie nicht durch Pflicht und Zwang des Alltags, des stetigen wiederkehrenden Lebenskampfs, auf ihre Echtheit und ihren wahren Gehalt erprobt werden. Da gerät man in die Schwärmerei, und Schwärmerei war Marie bis in den Tod verhaßt. Und da sie gerade in diesem Punkt streng mit sich ins Gericht ging, blieb ihr auch auf die Dauer nicht verborgen, woran es lag, daß sie die Seelen der Kinder nicht gewinnen, nicht über den trennenden Abgrund zu sich herüberziehen konnte. Höchstens zum Schein, nicht in Wirklichkeit. Trotzdem ihr jedes Kind, dem sie ein Asyl bot, Anlaß zu besonderer Herzensleistung wurde. Schicksal, Herkunft, Familie, Vergangenheit, alles bezog sie mit ein. Und sie glaubte nicht an einen hoffnungslosen Fall, nicht an Unverbesserlichkeit, nicht an angeborenes Laster. Sie hielt, nicht die menschliche Natur im allgemeinen, aber die kindliche für verwandelbar. Was sie als Möglichkeit berückte, ohne daß es vielleicht mehr war als eine traumhafte Formel, war eine pädagogische Provinz der Liebe. Und das, eben das erwies sich als nicht verwirklichbar. Warum? Sie schob es zuerst auf die Stadt. Gewiß, auch die Stadt war schuld, dieser ungeheure Wabenstock, dieser von der Erde ausgespieene Riesenklumpen, in dem alle Wurzelfasern bis zur Unkenntlichkeit verdorrt waren; dieses Mastodontengehirn im Präpariertiegel mit bloßgelegten Windungen und Blutadern; dieses schreckliche Scheinbild des Organischen, das organisierter Tod war. Wer etwas Reines und Gutes wollte, wurde nicht damit an- und aufgenommen, er machte bestenfalls von sich reden und spielte auf einer Schaubühne vor einem mäßig interessierten Publikum. Sie wünschte sich fort; sie mußte weg, und zwar bald, wenn noch was aus ihr und mit ihr werden sollte.

Aber nicht nur darum gelang es nicht. Sondern weil ihr die Gnade fehlte. Die wahrhaftige, große, begnadete Demut. Die sich vor aller Erscheinung ehrfürchtig beugt, sei es Aussatz oder Wahnsinn, Bosheit oder Mord. Die von keiner Ungeduld mehr weiß, von keiner Nervenqual, fast von keiner Sorge mehr. Die nichts ist als Gefäß, auffangender Krug in einer unsichtbaren Hand. Sie wußte es genau. Eines Tages stand das Bild mit unerbittlicher Schärfe von ihr. Und ebenso genau wußte sie, daß sie von der Erfüllung so weit entfernt war wie von der gewissen Landschaft auf dem Mond. Sie hätte erst den Schlüssel haben müssen, um die Tür aufzusperren, hinter der sie als die anscheinend unabänderlich geprägte Person Marie Kerkhoven gefangen saß. Sie hätte das Gehäuse Marie Kerkhoven sprengen müssen. Und an dieser Aufgabe verzweifelte sie: aus Anhänglichkeit an ihre Form, aus Furcht vor dem damit verbundenen Leiden, aus Liebe zu sich selbst.

Was war zu tun? Wo gab es einen Menschen, dessen Tat oder Sein oder Schicksal ihr zur Überwindung helfen konnte? Denn ohne einen lebendigen Menschen, einen irdischen und sinnlich greifbaren, war es nicht möglich. Sie sollte ihn finden, diesen Menschen.


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