Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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Der erste, dessen sie sich annahm, war ein achtjähriger Junge, Heinz Binder. Er und seine vier jüngeren Geschwister waren in einer einfenstrigen Kammer untergebracht, in der außerdem noch die Eltern und drei Arbeitslose schliefen. Der Vater war Gewohnheitstrinker; er hatte nie für die Familie gesorgt. Da er in seinen Trunkenheitsexcessen eine Gefahr für das Leben der Frau und der Kinder wurde, erreichte man seine Internierung in einer Entziehungsanstalt. Die Frau blieb mit den fünf Kindern allein, konnte sie aber nur kümmerlich ernähren, da sie immer schwerer und seltener Beschäftigung fand. Eines Tages als sie wieder einmal von vergeblicher Arbeitssuche zurückkehrte, entschloß sie sich zu sterben. Die vier jüngeren Kinder waren bei einer Nachbarin, Heinz war in der Schule. Als er zu Mittag nachhause kam, fand er die Mutter am Fensterkreuz, an einem Strick hängend. Sie röchelte noch. Geistesgegenwärtig holte er eine Schere aus der Tischlade, schnitt den Strick durch und rief die Nachbarn herbei. Die Frau konnte noch rechtzeitig in die Klinik gebracht werden. Marie besuchte sie dort, um wegen Heinz mit ihr zu sprechen. Sie war erst neunundzwanzig Jahre alt. Marie traute ihren Augen nicht, als sie es erfuhr. Gesicht und Figur waren die einer Fünfzigerin. Zwei von den Kindern mußten ins Spital transportiert werden; das eine hatte eine Rückgratsverkrümmung, das andere litt an hochgradiger Anämie. Zwei andere nahm eine Chauffeursfrau zu sich, die im Hause wohnte. Heinz wollte nicht mit Marie gehen. Er musterte sie mit finster erstaunten Blicken; sie trug einen Pelzmantel und Handschuhe. Er wußte nicht, was die Erscheinung einer solchen Frau in seinem Leben bedeuten sollte. Als sie ihn dann bei der Hand nahm und zu ihm sprach, und zwar aus einem richtigen Instinkt heraus mit leiser Stimme, begann er vor sich hin zu lächeln. In diesem Lächeln war alles mögliche enthalten: Verachtung, Unglauben, Bestürzung, Bewunderung, äußerstes Mißtrauen. Er zog die Brauen in die Stirn und tippte vorsichtig mit dem Zeigefinger auf das Zifferblatt Maries goldener Armbanduhr. Dann ließ er sich widerspruchslos wegführen...

Ähnlich erging es ihr mit der zehnjährigen Sabine Sämisch, von der man ihr berichtet hatte, daß sie seit einer Woche bei einem Kohlenhändler in dessen stockfinsterer Kellerwohnung lebe. Sie war zwei Monate lang auf der psychiatrischen Klinik gewesen, weil sie einen Selbstmordversuch gemacht hatte. Angeblich als geheilt entlassen, weigerte sie sich standhaft, nachhause zurückzukehren. Sie hatte sieben Geschwister im Alter zwischen zwei und vierzehn Jahren. Die Mutter befand sich seit dem Sommer in der Irrenanstalt. Dadurch gerieten der Haushalt und die Kinder in die ärgste Verwahrlosung. Der Vater war Möbelpacker und wurde stellenlos. Das hinderte ihn nicht, jede Nacht ein Frauenzimmer heimzubringen, fünf oder sechs im Lauf der Zeit. Sie blieben oft auch tagsüber da und mißhandelten die Kinder. Das alles hätte Sabine noch ertragen, wenn nicht die wüsten Auftritte in der Nacht gewesen wären. Entweder prügelte der Vater die Weiber, daß ihr Geschrei durchs ganze Haus gellte, oder, was noch ärger war, die Kinder mußten Zeugen seiner Ausschweifungen sein. Da setzte Sabine eines Tages ihr Bett mit Petroleum in Brand. Im letzten Augenblick zog man sie aus den Flammen...

Was konnte man diesem verstörtem Wesen sagen, das nicht abgestanden und hölzern klang? Man hätte ein Gott sein müssen, um einen Freudenschimmer auf seine Stirn zu zaubern. Dennoch versuchte es Marie. Und als Sabine immerfort auf die Stiefelspitzen der schönangezogenen Dame starrte, hatte die schönangezogene Dame Herzweh... Und ließ am anderen Tage ihren Pelz zuhause und hüllte sich in einen unscheinbaren Stoffmantel. Auch wieder Regiekünste. Umlernen in einem grausigen Spiel. Anpassungsversuche mit fragwürdigem Erfolg. Eines Tages gab man ihr die Adresse eines Buttergeschäftes in der Köhlerstraße. Dort war ein vierjähriger Bub aufgegriffen worden, von dem man nach unendlichem Befragen nur erfuhr, daß er Chaim heiße. Ein Ostjudenkind. Gänzlich abgerissen und verhungert. Er war offenbar von zuhause entlaufen und hatte sich Tage lang Gott weiß wo herumgetrieben. Die polizeilichen Aufrufe und Nachforschungen hatten kein Ergebnis. Die mitleidige Frau des Händlers hatte das Kind zu sich genommen, aber sie konnte es nicht behalten, sie hatte selber einen Haufen Kinder und war arm. Es war das scheueste Geschöpf, das Marie bis jetzt gesehn hatte. Wenn sie es an der Hand nahm, riß es sich los, kroch unters Bett und begann zu schluchzen. Aber ganz plötzlich faßte es Zutrauen. Es hatte herrliche sammetglänzende große Augen. Als es Marie zu sich in ihre Wohnung brachte, blieb es in freudigem Schrecken über die Räume, die ihm märchenhaft schön erschienen, vollkommen stumm und erstarrt. Marie hatte gleich eine tiefe Sympathie für den kleinen Jungen und er wurde ihr nur noch lieber, als sie bald darauf um ihn kämpfen mußte, fast wie um ein eigenes Kind.


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