Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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Eine Wiese erscheint am Horizont

Zu jener Zeit trugen die Frauen des gebildeten Bürgerstandes eine affenhafte Liebe für ihre Kinder zur Schau. Sogenannte Abhärtung, hygienische Vorschriften, pädagogische Maßregeln, das alles wurde mit feierlicher Wichtigkeit beschwatzt, in Versammlungen erörtert und nach den modernsten Grundsätzen verwirklicht. Man hätte glauben sollen, in den Sprößlingen dieser wohlhabenden Damen, die sich jede Extravaganz leisten konnten, wüchse ein Geschlecht sittlich und körperlich vollkommener Typen heran, befähigt, der menschlichen Gesellschaft ein hoffnungsreicheres Gesicht zu geben. Indessen haben wir von einem neuen Menschheitstag bis jetzt nichts bemerkt.

Ganna hatte sich hartnäckig geweigert, ihre Kinder in die öffentliche Schule zu schicken. Sie wurden zuhause unterrichtet, auf die Dauer eine kostspielige Sache. Aber jedes Schulzimmer war nach Gannas Behauptung ein verpestetes Lokal, Sitz ansteckender Krankheiten, eine Infektionshölle, wie sie es nannte. Zudem war sie eine erbitterte Gegnerin der üblichen Lehr- und Erziehungsmethoden. Sie war für individuelle Behandlung, der Berücksichtigung der Eigenart, für harmonische Entwicklung der Persönlichkeit. Wunderschön; aber wo waren die Anstalten dafür? Mir waren die Theorien jener damals neu herauf kommenden Pädagogen verdächtig, die mit ihrer Vergottung des Kindes den Grund legten zu der Herzensverrohung einer späteren Ära.

Ich gab Ganna zu bedenken, daß man Kinder zum Gefühl der Gemeinschaft erziehen müsse; daß man sie zu unsozialen Selbstsüchtlingen mache, wenn man sie vor Opfer und Unterordnung, Härte und Rüttelung bewahre; wo sähen sie sich hinversetzt im Gegensatz zu den Millionen Unverschonter, welche Scham und Rache wartete ihrer, wenn einst der Tag der Abrechnung und des Ausgleichs kam? Das war in den Wind gesprochen. Einem Geist wie Gannas mußte der Weltzustand, in dem sie sich bewegte, unveränderlich erscheinen, da sie ja auch keine Wandlungsmöglichkeit in sich selbst besaß. Sie erging sich in ausschweifenden Phantasien über die Grausamkeit der Schultyrannen, denen es nicht um Wissen und Bildung zu tun sei, sondern um Zensur und Sittenzeugnis. Seien nicht alle Zeitungen voll von Schülerselbstmorden? Nein, sie lasse die unschuldigen Seelen nicht gewaltsam vergiften. »Eure Schulen sind Zuchthäuser,« rief sie mit der Miene eines fanatischen Predigermönchs, »eher laß ich mich vierteilen als daß ich meine Kinder zu solchem Sträflingsdasein verdamme.« Meine Kinder! Ganna, Ganna! Mein Haus, mein Mann, meine Kinder: A und O des Lebens, das »dein« liegt daneben wie ein krepierter Hund.

Was hatte sie vor? Ferry ging ins zehnte Jahr, man mußte sich seinetwegen entscheiden, er konnte nicht länger wie ein Prinz von Gleichaltrigen abgesondert werden; Elisabeth ebenfalls nicht. Sie lebten ja auch schon im Treibhaus. Die Glaswände mußten endlich zerschlagen werden. Mich dünkte als kämpfte ich mit Ganna einen heimlichen Kampf um die Seelen der Kinder. Nicht Liebe und Liebeswille gaben dabei den Ausschlag, sondern das was ich die atmosphärische Wirkung eines Menschen nenne, den stummen und gleichmäßigen Einfluß einer schutzgeisthaften Gegenwart. Wie sich Blut von Vater und Mutter zu Erbe und Schicksal mischen, hat noch niemand ergründet; war es doch ungewiß, ob Vater und Mutter mehr dazu beitrugen als ihren anmassenden Glauben. Gannas Verzärtelungstrieb war eine ernsthafte Bedrohung. Aber war ich denn selber so weit von Verzärtelung entfernt, daß ich richten durfte? Man kann einem gar nicht genug Liebe mitgeben, pflegte ich zu schwachmütig zu sagen, als ob Liebe, die man schenkt, für den Empfänger ein Universalrezept gegen Unglück und Leiden wäre; als ob ich nicht gewußt hätte, daß uns bitterer friert, wenn uns der warme Mantel genommen wird wie wenn wir nie einen gehabt hätten.

Eines schönen Tages lustwandelt Ganna in ihrer schwelgenden Langsamkeit durch die Gassen des Vororts und kommt zu einer umzäunten Wiese, die sich in anmutiger Wellung wie eine wehende grüne Fahne, hügelaufwärts hinbreitet. Sie bleibt stehen. Ein Gedanke schießt ihr ins Hirn: hier müßten die Kinder ihre Schule haben. Trächtiger Augenblick. Sogleich sieht sie alles vor sich: hübsche Holzhäuser, langgestreckte Klassenpavillons, luftige Schlafsäle für die Internen, Versammlungsraum, Lesesaal, Tennisplatz, Turnbaracke; zum Greifen wirklich. Warum sollte sie ein so ideales Heim nicht nach ihren Plänen bauen können? Wer sollte sie hindern? Es ist schließlich eine Geldfrage.

Daran knüpfen sich folgende Überlegungen, die innerhalb weniger Minuten durch ihren erfinderischen Kopf wirbeln, während sie wie angewurzelt dasteht und mit der Wiese liebäugelt. Geld wird einem vorgestreckt, dazu gibt es Geldleute. Man wird sie am Nutzen beteiligen, die Rückzahlung hängt von der Rentabilität ab. Man wird eine Gesellschaft gründen. Eine Schulgemeinschaft. Eine so herrliche Wiese in herrlicher Lage stellt ein Vermögen dar. Vielleicht kann man sie billig erwerben. In einigen Jahren ist sie im Wert dermaßen gestiegen, daß man die Kosten des ganzen Unternehmens davon bestreiten kann, gesetzt den unwahrscheinlichen Fall, es bezahle sich nicht von selbst. Aus ganz Österreich und Deutschland werden die Schüler herbeiströmen. Man macht Propaganda großen Stils. Man verschafft sich das Öffentlichkeitsrecht, wozu hat man Beziehungen. Es wird eine Goldgrube. Die Wiese reserviert sie für sich. Sie bleibt ihr Privateigentum. Angenommen, sie kostet jetzt sechzig- vielleicht siebzigtausend, so wird sie in zehn Jahren, wenn der Bezirk ausgebaut ist, unter Brüdern eine halbe Million wert sein. Mit einer halben Million verschafft sie mir eine unabhängige Existenz und ein sorgenfreies Alter. Außerdem werden es die Kinder wie im Himmel haben.

Und Ganna sieht nirgends eine Schwierigkeit.

Erinnert dies nicht an die Plänemacherin im Märchen, die aus einem Karren mit Töpfergeschirr unermeßlichen Reichtum herausspekuliert, bis dann durch einen widrigen Unglücksfall das ganze Geschirr in Scherben vor ihr liegt?

Es ist ein psychologisches Geheimnis, daß Menschen wie Ganna von den Umständen so lange begünstigt werden, bis der Spannungsgegensatz zwischen Traum und Wirklichkeit mit einer Katastrophe endet. Blickt man tiefer, so kennzeichnet sich die Schwäche ihrer Konstruktion von vornherein durch die Spaltung der Beweggründe: es entsteht ein Sowohl-Als auch, eine Doppeltheit der Absicht. Sie wollen sich gegen das Mißlingen wie gegen das warnende Gewissen sichern, indem sie den nächstliegenden Zweck mit einem fernerliegenden, der unpersönlicher scheint, stützen und überhöhen. Statt daß sie aber damit die Kraftquelle verstärken, wie sie meinen, zerteilen sie sie, und während sie sich einen Fluchtweg nach dieser und nach jener Seite offen halten wollen, verrammeln sie alle beide. Genau das war Gannas Fall, als sie mit ihrer unwiderstehlichen Energie daran ging, nicht nur für ihre Kinder ein Erziehungsparadies aus der Erde zu stampfen, sondern auch zu gleicher Zeit mittels einer großzügigen Spekulation die Zukunft des geliebten Gatten gegen jede Schicksalsdrohung zu feien. Dadurch scheiterte beides, wurde beides Wahn.

Die Schulgründung und was damit zusammenhängt

Begleiten wir sie bei ihren weiteren Schritten, die ebenso kühn wie sachgemäß sind. Sie erfährt, daß die Wiese einer Frau Nußberger gehört, einem alten Weiblein, Witwe eines Weinbauern. Sie macht dem Weiblein einen regelrechten Besuch und fühlt ihm auf den Zahn. Ihre Erwartung hat sie nicht betrogen, die Wiese ist zu haben. Der Preis: hundertzwanzigtausend. Ganna tut als sei sie die Beauftragte einer Interessentengruppe und fängt auf alle Fälle an zu handeln. Sie hat den Eindruck, daß ihr dies nicht viel nützen wird, aber da eine Hypothek von vierzigtausend auf dem Grundstück liegt, die nicht abgelöst werden muß, verringert sich die aufzubringende Summe um diese vierzigtausend. Noch am selben Tag begibt sie sich zu ihrem Freund und Verehrer, dem Advokaten Dr. Pauli, der einer der gesuchtesten Anwälte der Stadt und ein Mann von großem Einfluß ist. Sie entwickelt ihm ihr Projekt. Er ist höchlichst davon angetan. Er verspricht ihr seine Hilfe. Hauptfrage: wie bekommt man die Wiese? So viel hat Ganna schon heraus: das Mütterchen Nußberger braucht Bargeld. Wiederholte Unterredungen mit der freundlichen Greisin überzeugen sie, daß diese bereit wäre, Ganna das Grundstück gegen eine verhältnismäßig geringe Angabe abzutreten, wenn für die Gesamtkaufsumme genügend Sicherheit geboten wird. Ganna wendet ihre ganze Liebenswürdigkeit und bestrickende Suada auf, um den Anzahlungsbetrag möglichst niedrig zu halten. Verwandte erscheinen, Töchter, Enkel, Schwiegersöhne, der ganze Nußbergerclan, alle brauchen Geld, es wird endlos hin- und hergeredet. Tatsächlich gelingt es Ganna, die Angabe auf zweitausend Kronen herabzudrücken. Das macht sie einfach genial. Allein woher die zweitausend nehmen? Vom Konto? Unmöglich. Es ist die letzte Reserve. Sonach muß ein Geldgeber gefunden werden, der um der großen Sache willen das Risiko auf sich nimmt. Er findet sich. Dr. Pauli hat einige seiner Bekannten zur Gründung der Schulgemeinde überredet. Einer der Gründer läßt sich bestimmen, die Angabe zu leisten. Wie es Ganna zuwege bringt, daß die Wiese auf ihren Namen und nicht auf den der Gesellschaft überschrieben wird, ist ein Meisterstreich. Sie hat es mir einmal zu erklären versucht, aber ich habe es nicht verstanden, solche Geschäfte waren mir zu kompliziert, ich wunderte mich nur, daß Ganna sich so wohl darin auskannte: sie muß eine angeborene Begabung dafür haben, dachte ich mir.

Nun geht es rasch vorwärts. Der Kreis der Teilnehmer vergrößert sich täglich. Es sind lauter vermögende Leute. Mich erstaunt es, wie viele Eltern es gibt, die ihren Kindern die Ärgerlichkeiten eines strengen Bildungsgangs ersparen wollen und sich dabei auf Freiheit, Mindestprogramm und moderne Prinzipien ausreden. Sie wissen offenbar Bescheid um die Fallstricke des Lebens und greifen entzückt zu, wenn sie durch Zahlung einer standesgemäßen Prämie ihrer lernfeindlichen Nachkommenschaft zu einem privilegierten Dasein verhelfen können.

Jedoch weit größer ist mein Staunen über Gannas unermüdlichen Eifer und ihre augenscheinliche Tüchtigkeit. Anstoßend an die Wiese liegt ein Landhaus in einem geräumigen Garten. Von Anfang an hat Ganna ihren Feldherrnblick darauf geworfen. Es ist zu vermieten; sie mietet es; später will sie es für das Heim käuflich erwerben. Mit der Wiese zusammen läßt sich dann die Schule in großem Maßstab ausgestalten, vornehmlich als Internat. Es finden aufregende Verhandlungen statt. Zumeist in meiner Wohnung. Ich komme mir vor wie ein Mann, der in einen Straßenauflauf geraten ist und sich ängstlich erkundigt, worüber sich die Leute erhitzen. Gannas Berichte werden immer verworrener. Zu ruhiger Unterhaltung fehlt ihr die Zeit. Frühmorgens saust sie in die Stadt, spätnachmittags erscheint sie wieder, abgehetzt, atemlos, verhungert. Dann gehts ans Schreiben. Sie schreibt Briefe, Dutzende in einem Zug, Prospekte, die gedruckt werden müssen. Artikel für die Zeitungen, pädagogische Aufsätze, Erlässe im Namen der Schulgemeinde, Gesuche ans Unterrichtsministerium, Stundenpläne für die Klassen, Entwürfe für die Wirtschaftsführung. Ich bin starr über ihre Ausdauer, ihre Umsicht, ihre Vielseitigkeit. Ihr Zimmer ist ein Amtslokal. Die Dienstboten treiben was sie wollen. Die Kinder sind sich selbst überlassen. Tagsüber flieh ich das Haus. Wenn ich abends heimkomme, sind alle Räume voller fremder Menschen. Advokaten, Beamte, Schulmänner, Journalisten, enthusiastische Damen, zweifelhafte Persönlichkeiten, die die Gelegenheit wittern, eine Stellung zu ergattern, alles drängt sich in den drei Zimmern, verzehrt belegte Brote, trinkt unendliche Mengen Bier, Wein, Schnaps und Tee, debattiert lärmend und schnüffelt in meiner Bibliothek neugierig in Büchern und Handschriften. Beständig steht jemand am Telephon, am öftesten Ganna. Es regnet Depeschen, langatmige Kundgebungen werden verlesen und Abordnungen gewählt, die die Behörden bearbeiten sollen.

Die Schulgemeinde beginnt ihre Tätigkeit, das Aktienkapital ist gezeichnet; da bricht die erste Rebellion aus. Ganna hat sich Übergriffe zuschulden kommen lassen, so wird wenigstens behauptet. Sie hat den Abmachungen zuwidergehandelt, heißt es, hat in fremde Ressorts eingegriffen, hat die falschen Leute an wichtige Posten gesetzt, hat zum Beispiel einen hübschen jungen Kerl, einen gewissen Borngräber, auf ein paar windige Empfehlungen und seine aalglatten Manieren hin zum Schuldirektor gemacht. Alsbald erweist es sich, daß der Mann stänkert und gegen sie intrigiert. Ich gehe der Sache nach, ohne ihr auf den Grund zu kommen. Ich muß mich an Gannas Erzählungen halten. Mit der ihr eigenen Furchtlosigkeit vor Gemeinplätzen sagt sie: »Ich habe eine Schlange am Busen genährt.« Doch dieser ist nicht der einzige, der ihr in den Rücken fällt. Jeden Tag gibt es neue Gegner, Zettelungen, Zwischenträgereien, Verrätereien, Verschwörungen. Borngräber schart eine Partei um sich. Ganna schart eine Partei um sich. Nicht sehr ersprießlich für einen Schulbetrieb. Was ist denn nur los, denke ich, Ganna kann doch keinem Kind was zuleide tun, weshalb sind denn die Menschen so aufgebracht gegen sie? Ich werde mit allerlei Klagen und Anschuldigungen behelligt. Ich kenne mich nicht aus und frage Ganna, wie sich dies oder jenes verhalte. Ganna schildert die Vorgänge so als sei sie das Opfer von Bosheit und Neid, als lege man es darauf an, ihr das Regiment aus der Hand zu winden. Sie fordert, ich solle mich ihrer annehmen. Wenn ich mein gewichtiges Wort in die Wagschale werfe, so beteuert sie, wird niemand mehr wagen, sich gegen sie aufzulehnen.

Ich glaube zwar nicht an die Gewichtigkeit meines Wortes, aber ich will nichts unversucht lassen, ihr zu helfen, denn auch ich habe den Eindruck, daß sie einer entfesselten Meute gegenübersteht. Kummer zehrt an ihr. Sie opfert sich für einen großen Gedanken, man lohnt es ihr übel. Leicht erkennbar hebt sich die Figur des weiblichen Don Quichote aus der feindseligen Umwelt. Es muß etwas geschehen. Ich verhandle mit den Lehrern, mit dem perfiden Borngräber, mit Dr. Pauli, mit einem würdigen Hofrat, der der Ehrenprotektor der Schule und Gannas Vertrauensmann ist. Ich erreiche so gut wie nichts. Ich kenne mich in dem Hader nicht mehr aus. Ein erbittertes Durcheinander von Stimmen umschwirrt mich. Ich bin kein Vermittler, ich kann mich zwischen Streitenden nicht entscheiden. Man macht mir bemerklich, daß mich Ganna in einigen wesentlichen Punkten falsch berichtet hat. Als Ganna mein Schwanken wahrnimmt, wird sie ausfällig gegen mich. »Was soll ich denn tun, Ganna,« sage ich desperat, »es ist ja wie wenn ein Wespenschwarm über einen herfällt.« Ich statte dem Vorsitzenden des Aufsichtsrates einen Besuch ab, einem kaiserlichen Rat Schönpflug. »Das Verhalten von Frau Herzog ist nicht ganz durchsichtig,« äußert sich der sonst recht sympathische Mann. Ich antworte ihm schroff, ich könne nicht den geringsten Zweifel an den lauteren Absichten meiner Frau zulassen. Dies teile ich Ganna mit. Sie wünscht, ich solle meine Meinung in einer kurzen Denkschrift dem Kuratorium bekanntgeben, das werde ihren Feinden die Mäuler stopfen. Ich darf mich nicht weigern, ich hätte keine ruhige Stunde mehr. Andrerseits bin ich in Gefahr, mich bloßzustellen und vielleicht, es ist ja möglich, eines Tages der Lüge geziehen zu werden; Ganna ist in hohem Grad der Selbsttäuschung unterworfen, kann sein, daß sie weniger unschuldig ist als sie glaubt. Ich verfasse die Erklärung, worin ich die Reinheit ihres Charakters und die sittliche Größe ihres Handelns überzeugend darstelle. Dann ergreife ich die Flucht und bringe mich für einige Wochen in Ebenweiler in Sicherheit...

Tragik des Mannes

Bevor ich den Fortgang und das Ende der immer bedrohlicher und häßlicher werdenden Schulgeschichte erzähle, will ich von meinen eigenen Erlebnissen in diesen Jahren vor dem Krieg und in der ersten Zeit des Krieges berichten, darunter zwei sehr bedeutsamen, die, jedes in seiner Art, großen Einfluß auf die Gestaltung der Zukunft hatten. Das eine war die Geburt meiner Tochter Doris, das andere die Schenkung eines Hauses, ja eines ganzen, wohleingerichteten Hauses samt Grund und Boden, Freundesgabe eines jungen Ehepaares, zu dem ich seit langem in herzlichen Beziehungen stand. Ich hatte mit den beiden bisweilen über meine häusliche Not gesprochen, die Schwierigkeit, in einer Mietswohnung Ruhe und Sammlung zu finden und den daraus entstehenden Zwang, den Tag zu vergeuden und die Nacht zuzusetzen. Da boten sie mir in einer großherzigen Regung das Geld zum Bau eines Landhauses an. Zuerst benahm mir der Glücksschrecken den Atem. Ich wagte es nicht abzulehnen, wagte nicht zuzugreifen. Es war ohne Beispiel, ich fragte mich, ob ich das Recht hätte, diese Schicksalsgunst zu nutzen, fast dünkte mich, ich werde dadurch zum Betrüger an den Freunden. Wie soll man für ein solches Opfer einstehen, auch wenn der andere keines darin sieht, wie dafür danken, da doch Dank, den man nicht abtragen kann, zur Bürde wird? Ich hatte nichts von der Vielfraßnatur jener Genies, (ich hielt mich auch für keins), die die Hilfeleistung ihrer Anhänger als selbstverständlichen Tribut empfangen. Ich war zu sehr durchtränkt vom bürgerlichen Geist der Pakte und Verträge. Die Formel des Nichts für Nichts und Wert für Gegenwert saß mir im Blut. Und es wurde mir nicht leicht, mir ein Verdienst zuzuerkennen, das die Generosität der Freunde in höherem Sinn rechtfertigte.

Ganna freilich hatte derlei Skrupel nicht. Sie fand es durchaus in der Ordnung, daß mich die Menschen ein wenig verwöhnten. Sie erstatteten mir nur zurück, was ich ihnen in Fülle gegeben, meinte sie mit aufgerissenen Augen. »Ach was,« versetzte ich unmutig, »es gibt ein paar tausend von meiner Sorte. Neunzig Prozent verrecken im Rinnstein, man hat schon ein Vorzugslos gezogen, wenn man zu fressen und ein Bett zum Schlafen hat. Was bin ich denn? Steht es mir zu, in einer Luxusvilla zu wohnen? Wir leben viel zu unverschämt auf Sicherheit hin.« Ganna widersprach heftig. War sie doch das Kind einer üppigen und anmaßenden Zeit, in der Geist und Werk ihren Börsenkurs hatten wie Effekten. Es hob meinen Wert unendlich in ihren Augen, obschon sie es nicht merken ließ, daß ich ein Mann war, dem man ein Haus in den Schoß warf. Seit den Medizäern hatte sich dergleichen nicht begeben. Sie posaunte das ihr und mir gewordene Glück in alle Himmelsrichtungen, und wenn ich sie um Zurückhaltung bat, schaute sie mich verständnislos an. Doch hatten wir nun ein neutrales Gebiet, wo gemeinsame Interessen ein gemeinsames Handeln ermöglichen. Man mußte Ganna beschäftigen, man mußte sie mit Brennstoff füllen wie einen Ofen. Sie konnte zwanzig Dinge zu gleicher Zeit betreiben und jedes mit dem nämlichen Schwung und wilden Eifer. Und als wir mitsammen die Pläne für das Haus besprachen, das Grundstück aussuchten, mit dem Baumeister verhandelten, die Voranschläge prüften, Möbel, Beleuchtungskörper und sonstige Nutzgegenstände kauften, wich die drückende Passivität von mir, in die ich ihr gegenüber allmählich geraten war, und ich ließ mich wenigstens schleppen. Und damit sie nicht dahinter kam, daß ich mich nur schleppen ließ, streichelte ich bisweilen die winzige Hand, die mir Zuckerstückchen reichte, damit ich meinerseits nicht dahinter kam, daß sie mich schleppte. In der Ehe gibt es für den Schwächeren viele Gelegenheiten keinen Charakter zu haben.

Es bedurfte keiner besonderen List und Bemühung Gannas, mich dazu zu bringen, daß ich den neuen Besitz, dieses mir persönlich zugedachte Haus, Arbeitsstätte und Zuflucht, auch auf ihren Namen schreiben ließ. Eines Tages gingen wir selbander zum Grundbuchsamt, und da wurde Ganna in aller Form rechtens Miteigentümerin der Villa. Ich machte mir keinen Augenblick Gedanken darüber. Ich überlegte nicht, daß ich damit ein Pfand aus der Hand gab, das erste und einzige, über das mir die freie Verfügung zustand. Ich zog nicht in Betracht, daß ich Ganna damit in einem Besitzgefühl verfestigte, das ihr, weit über die materielle Verschreibung hinaus, eine Verschreibung von Leib und Seele im magischen Sinn des Wortes bedeutete.

Aber all dem war ich ja nur äußerlich verhaftet. Später stellten sich mir diese Jahre wie der Gang durch einen finstern Hohlweg dar, mit seltenem Verweilen, seltenen Aufblicken. Ich fühlte das Nahen ungeheurer Ereignisse voraus. Die Sturmwolke, die noch unterm Horizont lag, warf schon elektrische Wellen, und so war ich immer unstet, wie ein Vogel vor dem Gewitter. Böser Zauber wob über dem Land und über den Menschen, unheimlich war mir, wenn ich nachts durch die Straßen einer deutschen Stadt ging, wie es häufig geschah; ich litt unter meinen Gesichten wie ein Schläfer, der träumt, sein Haus stehe in Flammen. Mich dünkte, eine andere Welt fordere mich als die, in der ich mir bis dahin genügt. Unbeträchtlich schien mir, was ich gemacht; und unzulänglich; zu allzuwenigen redete es, in abgelebten Formen bewegte es sich. Ich ahnte Wartende, aber ich wußte nichts von ihnen. Weit weg war ich noch von meiner Grenze, weit weg von mir selber; zerstieß ich die Kruste nicht, die mich umkerkerte, so wurde ich von ihr zermalmt.

In den Brand wurden auch die Sinne hineingerissen. Heißhunger wechselte mit Überdruß ständig. Keine Frau erfüllte mich; keine gab mir, was ich unklar suchte: Bild des eigenen Wesens, letzten Frieden des Blutes. Von einer zur andern raste ich und es war oft als müsse ich sie auseinandernehmen wie ein Gehäuse mit unbekanntem Inhalt, als müsse ich sie schälen wie eine Frucht, die man dann verschmäht. Es war nicht Abenteuerei. Es war nicht leere Gier. Vielleicht steckte etwas von dem Mißverständnis drin, das die lebendige Gestalt zornig-spielerisch mit der phantasiegeborenen vertauscht und sich mit jener zufriedengibt, weil sie diese nicht vollenden kann. Vielleicht rührte es an die Tragik des Mannes, der nach der Eisregion der Symbole aufbricht und sich unterwegs bei den warmblütigen Larven vergißt.

Als das Kind zur Welt kam, wohnten wir schon im neuen Haus.

Die Wahrheit dämmert auf

Erst danach gewannen die Vorgänge in der Schulgemeinde den Umfang einer Katastrophe, die tief in mein und Gannas Leben eingriff. Die Hauptursache des Unfriedens war, daß Ganna sich hartnäckig weigerte, der Gesellschaft die Wiese zu überlassen. Die Aktionäre bezeichneten es als unerträglich, daß das umfangreichste Grundstück des Heims, auf dem die neuerrichteten Schulgebäude standen, im Privatbesitz bleiben und die Eigentümerin, als Mitglied des Konsortiums, eine erhebliche Pachtsumme beziehen sollte. In stürmischen Versammlungen wurde Ganna das Unmoralische und geschäftlich Unhaltbare dieses Verhältnisses vorgeworfen. Es stelle sie in ein übles Licht, wurde gesagt, daß sie zugleich den idealen Nutzen und den Löwenanteil des materiellen Gewinns beanspruche. Es ist schon so: Leute, die sich um einen Profit betrogen sehen, den sie selber einzustreichen wünschen, sind äußerst rigoros in der Beurteilung derer, die neben ihren geistigen Verdiensten auch einen greifbaren haben wollen. Das geht nicht, behaupten sie, entweder du bist ein Händler oder du bist ein Priester, beides zu sein ist unanständig. Die Advokaten der Gegenpartei bestritten sogar Gannas Anrecht in Bausch und Bogen. Sie verfochten die These, Ganna hätte die Wiese mittels einer dubiosen Machenschaft an sich gebracht und erboten sich, diese Anklage zu beweisen.

Ganna ist ihrer Sinne nicht mehr mächtig. Die Welt verfinstert sich ihr. Sie schwört heilige Eide, sie wolle lieber zugrunde gehen als auf die Wiese verzichten; nicht einen Quadratfuß, nicht einen Grashalm gebe sie her. Es kann nicht ausbleiben, daß unsere Kinder, um derentwillen doch die Sache gegründet worden ist, die Unbeliebtheit ihrer Mutter zu spüren bekommen. Mit der Vorzugsstellung, die Ganna für sie erträumt hat, ist es nichts. Aber daß sie eine Benachteiligung und seelische Schädigung erfahren, wie Ganna weinend versichert, kann ich nicht finden. Ich hielte es für ganz ersprießlich, wenn sie mal ein bißchen rauh angefaßt würden, sage ich mit einer Gelassenheit, die Gannas Wut erregt. »Du wagst es, die Verbrecher in Schutz zu nehmen?« faucht sie mich an, »da sieht man wieder, was für ein Schwächling du bist. Alle Welt weiß ja, daß du deine arme Frau bei jeder Gelegenheit preisgibst. Gott wird dich schon strafen.« Was für Reden! Preisgegeben hab ich sie bisher wahrlich nicht, und was soll das mit dem strafenden Gott? Was weiß sie denn von Gott, sie, die sich seines Namens nur bedient, wenn sie Bannflüche schleudert. Sie hat sich einen Gott erdacht, der als Ganna Herzogs Spezialschutzmann amtiert und auf der Stelle seine Donnerkeile schleudert, wenn seiner geliebten Ganna von schlechten Menschen ein Leid geschieht.

Sie rückt den verschiedenen Lehrern auf die Bude und sagt ihnen knüppeldicke Aufrichtigkeiten. Das verbessert die Sachlage nicht. Ferry weigert sich, noch länger ins Schulheim zu gehen; jetzt ist es wirklich so weit, daß man die Kinder entgelten läßt, was Ganna sündigt. Der Unterricht, von Ganna vordem als mustergiltig gepriesen, ist auf einmal unterm Hund. Dieselben Lehrer, die noch vor kurzem lauter Fröbels und Pestalozzis waren, sind über Nacht verworfene Subjekte geworden. Den Direktor Borngräber hinauszubeißen, in den sie zweifellos ein wenig verliebt gewesen ist, scheut sie kein Mittel. Sie konspiriert mit dem Schuldiener und den Scheuerfrauen. Tag für Tag schlägt sie sich mit Personen herum, denen gegenüber der Name Herzog längst keinen Respektsschutz mehr für sie bildet. An ihnen reibt sie sich. An ihnen reibt sie sich auf. Wie jeder zweckpolitisch gerichtete Mensch ist sie beständig von Aufstachlern und Ohrenbläsern umgeben. Ich habe Angst, daß sie nicht reine Hände behalten wird.

Das Hauswesen verfällt. Am Abend kommt sie erschöpft von ihren Kampfzügen zurück. Sie schlingt die aufgewärmten Reste des Mittagessens in sich hinein, ohne zu schmecken, ohne zu wissen, was sie verzehrt. Sie stürzt ins Kinderzimmer, wo sich die Schleusen ihrer aufgestauten Zärtlichkeitsflut öffnen, denn da sich ihre mütterliche Obsorge auf diese kurze Zeit beschränkt, glaubt sie durch Heftigkeit des Gefühls ersetzen zu sollen, was ihm an Stetigkeit mangelt und nimmt von keinem Umstand Kenntnis, der ihr die Vergötterten in einem andern Licht zeigen könnte als dem ihrer augenblicklichen Verliebtheit. Doch braucht nur eines der Kinder ihre Ungeduld zu erregen oder sich einer zufälligen Laune nicht zu fügen, so schreit sie das bestürzte, eben noch gehätschelte Wesen sinnlos an, und wenn man ihr gar widerspricht, (es gehört zu den größten Sonderbarkeiten Gannas, daß sie keinen Widerspruch verträgt, in nichts, von niemand), dann schäumt sie vor Zorn. Gellt die Telephonglocke, so schlurft sie in den zertretenen Pantoffeln in den Flur, und man vernimmt am Apparat ihr dumpfes »Hallo-oh«, das mich vor Nervosität verrückt macht, zehnmal, zwanzigmal Halloh, einen wahren Jägerlaut, der wie aus dem Urwald klingt, mit dem düstern langhingedehnten O. Es läßt sich genau unterscheiden, ob am andern Ende des Drahtes jemand ist, der von ihr etwas will oder einer, von dem sie etwas will; im ersteren Fall ist ihre Stimme scharf, schneidend, herrisch, im letzteren süß, flehend und unterwürfig. Nach dem Abendessen setzt sie sich zu mir ins Zimmer und strählt ihre Haare, eine Beschäftigung, die sie ungebührlich lange ausdehnt und bei der sie träumt, Luftschlösser baut und an erlittenem Unrecht nagt. Der Kamm fährt knisternd durch das rotbraune Haar, die weitgeöffneten, intensiv blauen Augen starren ergriffen ins Leere. Wovon ergriffen, das weiß niemand, nicht einmal sie selbst, aber der unergründliche Schmerz, der sich in ihren Zügen malt, bewegt mich. Und wenn ich denke, sie werde zu Bett gehen, um ihre zerquälte Seele endlich der Ruhe zu überlassen, fällt ihr etwas Vergessenes ein, und sie hastet zum Schreibtisch, um einen viele Seiten langen Schriftsatz oder Brief abzufassen, der sich meist am andern Tag als bedeutungslos und überflüssig erweist.

Es ist das Wesen der Hölle, daß sie immer höhere Grade der Pein und des Schreckens hat; während man meint, Ärgeres könne nicht geschehen, befindet man sich noch in der Vorhölle, im gemäßigten Entsetzen vergleichsweise, und das war meine Lage in der Zeit, als Ferry und Elisabeth das Schulheim verlassen und in einer öffentlichen Anstalt untergebracht werden mußten. Ob es eine Maßregelung war oder ein freiwilliger Austritt, ist mir verborgen geblieben. Ganna behauptete, es sei ein Racheakt, und ich mußte ihr glauben, ich hatte keine Lust, der Wahrheit nachzuforschen, ich wollte nicht noch mehr Konfliktstoffe schaffen. Die Leiter der staatlichen Institute waren auf die freie Schule nicht gut zu sprechen, und Gannas Ratlosigkeit war groß, als die verschiedenen Gymnasien sich weigerten, Ferry mitten im Semester aufzunehmen, ihre Entrüstung war noch größer, als auf den ungenügenden Bildungsgang des Knaben verwiesen wurde. Die Sorge legte sich verdunkelnd über mein Gemüt. Ich fühlte mich haftbar für den Sohn, aber wie konnte ich vor dem Geschick für ihn einstehen, wenn mir die Mutter alle Verantwortung entriß und sich eifernd zur Richterin aufwarf, gegen deren Spruch es keinen Appell gab? Wovor sie das Kind zu verschonen getrachtet, das wurde nun erst recht sein Los: geistige Unsicherheit, erzieherische Willkür. Ich hatte die Zeit nicht, ihr abzudingen und abzuringen, was sie von mir und der Welt forderte als ihr Recht. Nein, ich hatte nicht die Zeit und nicht die Kraft, mit ihr zu hadern und sie zur Umkehr zu bewegen. Ich dachte, vielleicht törichter-, vielleicht anmaßenderweise, Gott habe mir meine Tage zu anderm Vollbringen gesetzt. Gannas Welt war eine Welt der schrankenlosen Freiheit, sich ihrer schrankenlos zu bedienen war für sie der einzige Weg zum Glück, wenn auch dieses Glück noch so vermeintlich war. Ich erinnere mich an Stunden, da ich in sie drang als hinge all mein Seelenheil davon ab, ihren starren Sinn zu brechen, sie milder, urbaner, einsichtsvoller zu machen. Aber es war wie wenn man aus Wasser ein Gesicht kneten wollte. Einmal sagte sie zu mir in seltsamer Zerknirschung: »Für dich müßte ich eine Heilige sein, aber ich kann nicht heilig werden ohne Todsünde.« Ich habe dieses schmerzliche und eigentlich furchtbare Wort nie vergessen können. Ein Abgrund tat sich plötzlich auf, in dessen Tiefe ich eine mit gespenstischen Schatten kämpfende Ganna erblickte.

Und wie stand es denn um mich? Was war ich denn? Ein Mensch, gepreßt in des Schicksals Faust. Der Krieg riß mich auf, riß mich entzwei wie der Sturm die Eisdecke über einem See zerreißt, er brachte mich ins Fluten und Überfluten, und aus dem stillen Träumer und Wirker, einem winterlichen Träumer, einem gefrorenem Träumer, wurde ein Erwachter mit Erfahrungen von Vielen, den Leiden von Vielen in der Brust. Schlaf und Ruhe flohen mich, ich trat aus der steinernen Abgeschiedenheit heraus; ich suchte zu helfen, ich suchte zu dienen, ich suchte eine Seele, und hätte ich sie nicht endlich in Bettina Merck gefunden, so hätte mich die Verzweiflung erwürgt.

Von alledem merkte Ganna nichts. Zu einem Gespräch über diese Dinge kam es nicht, zu ernsthafter Auseinandersetzung fehlte die Gelegenheit, denn sie war völlig in ihre Geschäfte verstrickt. Es hatte etwas Unheimliches, wie wenig die Weltkatastrophe sie berührte. Ihre Teilnahme an dem Geschehen, das die fünf Kontinente in ihren Grundfesten erschütterte, war die eines kleinen Mädchens, das sich ungläubig wundert, wenn der Himmel von einer fernen Feuersbrunst gerötet ist. Daß die Unheilsbotschaften, die zu ihr drangen, auf wirklichen Tatsachen beruhten, dessen war sie nie recht sicher. Ihr Schrecken hatte darum etwas Schablonenhaftes als handle es sich um eine verschwörerische Übereinkunft zwischen Menschen, die sie im Grunde nichts angingen, wogegen die greifbare, die wahrhafte, die Gannawelt, die Gannakinder-Welt mit diesen legendären, keineswegs bewiesenen Vorgängen eigentlich nichts zu schaffen habe.

Ich hatte mich gleich in den ersten Wochen des Krieges als Freiwilliger gemeldet. Kein Mann von Herz und Anstand dachte damals an Recht oder Unrecht des Kriegs, auch wußte keiner, was Krieg im Grunde war und bedeutete. Man war Teil eines Ganzen, das Ganze war, oder schien es wenigstens zu sein, ein lebendiger Organismus und begriff sich als Volk, als Vaterland, als Stätte alles Werdens und Seins. Ich erfand gegen Ganna eine Ausrede, fuhr über Nacht nach Wien und ging ins Konsulat. Der Konsul, der mich kannte, wollte mich, des großen Zulaufs wegen, vorerst wieder nachhause schicken, aber ich bestand darauf, daß man mich untersuchte. Der Arzt konstatierte eine Herzneurose. Ich kehrte ziemlich enttäuscht nach Ebenweiler zurück und erzählte Ganna, was ich getan. Sie konnte sich nicht fassen vor Entsetzen. »Was fällt dir ein, Alexander,« rief sie, »Vater unmündiger Kinder, Erhalter einer Familie, ist das dein Ernst?« Nun war es an mir, fassungslos zu sein; ich glaube, an jenem Tag kam ich dahinter, daß die Figur des weiblichen Don Quichote doch nur eine Hilfskonstruktion war. »Was ist denn nur mit deinem Herzen?« jammerte sie bewegt, als ich den Befund des Arztes berichtete; »siehst du, weil du dich nicht schonst. Du rauchst zu viel, du schläfst zu wenig, glaub mir doch endlich.« – »Ach nein, Ganna,« sagte ich, »das ist es nicht. Leben heißt sein Herz verbrauchen. Das ist es. Ich werde mich zu sehr heruntergegrämt haben. Bist du nie auf die Idee gekommen, daß Sichgrämen schädlicher ist als Rauchen und Zuwenigschlafen?« Da war sie ganz beleidigt. Sie wollte wissen, worüber ich mich gegrämt hätte, als handle sichs um einen bestimmten Fall. Einen solchen Fall konnte ich nicht angeben, was hätte das auch besagt, sie hätte mich zu widerlegen versucht, es wäre leeres Gerede daraus entstanden, doch drängte sie immer heftiger in mich und schließlich wollte sie wissen, ob sie mir eine gute Frau sei. »Hast du denn Ursache, dich zu beklagen? Sprich doch, bin ich dir keine gute Frau?« – »Ja, Ganna, ja, gewiß,« sagte ich, »du bist mir eine gute Frau.« Da wollte sie mein Ehrenwort, daß ich es wirklich so meinte. – »Was soll denn da ein Ehrenwort, Ganna, sei doch nicht kindisch,« entgegnete ich und hatte wie nie zuvor die Empfindung von hoffnungsloser Formelgläubigkeit, vom Hangen am entseelten Begriff und der Verliebtheit in ein Selbstbildnis, dem kein lebendiger Zug mehr anhaftete.

Ganna macht ihr Testament

Inzwischen sind die Dinge dahin gediehen, daß das Konsortium oder Kuratorium oder wie die Körperschaft sich nannte mit nicht mißzuverstehenden Drohungen die Wiese von Ganna fordert. Sie möge den Preis nennen, wird ihr bedeutet, die Summe müsse sich aber in vernünftigen Grenzen halten. Schwer für Ganna, die Grenze zu ziehen, da doch die Verwertung der Wiese der Inhalt ihrer Nacht- und Tagträume ist und sie mich, der auf diese Weise gar nicht beglückt zu werden wünscht, damit zum sorgenlosen Manne machen will. Mit einer schier unbegreiflichen Zärtlichkeit hält sie im Geist das Grundstück fest; das »Wieslein« sagt sie, und lächelt genau so selig wie wenn sie unserer kleinen Doris die Brust reicht. Was ist das denn? was geht in einem solchen Menschen vor? Ich kann es mir nicht erklären.

Der von allen Seiten auf sie ausgeübte Druck ist zu stark; sie verliert die Nerven. Hin- und hergeworfen zwischen Trotz und Schwäche, Besitzgier und Furcht, Erbitterung und Spekulationsleidenschaft kann sie sich zu keiner Entscheidung durchringen. Wer ihr in den Weg kommt, den fragt sie um Rat, was sie tun solle, die Schwestern, die Schwäger, die Dienstmädchen, die Lieferanten, den Gärtner, doch wenn sich einer nicht im Sinne ihrer heimlichen Wünsche äußert, wird sie unangenehm und ergeht sich in langatmigen Belehrungen ihres Standpunktes und Lobpreisungen der Wiese.

Sie beruft eine Generalversammlung. Es wird geredet, gestritten, durcheinandergeschrien, zuletzt verspricht Ganna, ihren Entschluß am nächsten Tag bekanntzugeben. Am nächsten Tag teilt sie dem Ausschuß brieflich den Verkaufspreis mit. Kaum hat sie den eingeschriebenen Brief abgesendet, erschrickt sie zu Tode und widerruft ihn sogleich. »Die lachen sich den Buckel voll,« sagt sie zu mir, »dreimal so viel muß ich verlangen, es sind lauter reiche Leute, ich laß mich nicht von denen ins Bockshorn jagen.« Ich warne sie. Ich verstehe nichts von der Sache, aber mir scheint, sie riskiert ein gefährliches Spiel. Neue Verhandlungen, wieder Geschrei und Getobe, schroffer Abbruch. Auch die Schwäger mahnen sie zur Mäßigung. Dr. Pauli bezeichnet das Angebot, das man ihr gemacht, als anständig und annehmbar, sie aber sträubt sich mit Händen und Füßen, sie behauptet, man will sie übers Ohr hauen. Man beweist ihr das Ungereimte ihrer Forderung, sie scheint es einzusehen, eine Stunde darauf ist sie wieder bei ihrer früheren Meinung. Sie rennt von Pontius zu Pilatus, bestürmt Gutgesinnte, beschimpft Andersdenkende, raubt den Leuten die Zeit, schildert die Intrigen, durch die man sie einzuschüchtern versucht, nennt abenteuerliche Summen, deren man sie mittelst Pression berauben will, fragt den, fragt jenen, fragt endlos; soll ich es tun? soll ich es nicht tun? zu dem Preis? zu jenem Preis? zu dieser Bedingung? zu jener Bedingung? werd ichs bereuen? werd ichs nicht bereuen? ist es nicht ein Verbrechen an meinem Mann und meinen Kindern, wenn ich dem Gesindel die herrliche Wiese in den Rachen werfe? Sie hat keinen andern Gedanken mehr im Kopf. Sie lebt wie auf der Flucht. Sie vernachlässigt ihre Person, ihre häuslichen Pflichten, mich, die Kinder. Zu den Mahlzeiten erscheint sie überhaupt nicht mehr. Bisweilen sitzt sie auf einer Bank in einem öffentlichen Park und verspeist einen Apfel. Manchmal hält sie Siesta in einem Automatenbuffet und lauscht mit feuchten Augen dem Gekrächz eines Grammophons als wäre es das philharmonische Orchester.

Ihre Unschlüssigkeit, ihren Groll, ihre Unrast, ihre Händel, ihre verworrenen Argumente, den ganzen Kehricht eines mit abstoßenden Mitteln geführten Sachstreits, das alles bringt sie zu mir. Ich soll das »letzte Wort« sprechen. Ich weigere mich; das letzte Wort wäre ja doch nur das vorletzte. Jeden Abend bis in die tiefe Nacht dasselbe Lied mit dem ermüdenden Refrain, sie tue es lediglich für mich, einzig und allein für mich kämpfe sie. Ich solle es wenigstens anerkennen. »Wenn du es anerkennst, will ich verzichten,« sagt sie: »erkennst du es an? erkennst du es an?« Die reine Echolalie. Was soll ich antworten? Sie wird keinesfalls verzichten, auch wenn ich es noch so willig anerkenne.

Ich halte die bodenlosen Redekünste nicht mehr aus; die verkniffelten juristischen Darlegungen; die Verdächtigung von Personen, die entweder gutgläubig sind oder doch von keinen verwerflicheren Absichten gelenkt als Ganna selbst, nämlich Geld zu machen. Mich widert vor der unappetitlichen Vermengung von Profit und Geistestat. Die Wiesengeschichte hat bereits Staub aufgewirbelt. Meinen Namen dabei genannt zu wissen, peinigt mich. Der alte Rat Schönpflug spricht mich im Club an und beschwört mich, ich möge Ganna vor weiteren Torheiten bewahren, man sei sonst genötigt, ihr einen bösen Prozeß anzuhängen, der vielleicht nicht nur zivilrechtlicher Natur sein werde. Es ist abscheulich, es ist erniedrigend, ich muß dem ein Ende bereiten.

Eines Morgens betrete ich, zum Ausgehen fertig, Gannas Schlafzimmer, um mich von ihr zu verabschieden. Sie kommt eben aus dem Bad, eingehüllt in einen rot und weiß karierten Bademantel. Sie ist meiner noch kaum ansichtig geworden, da beginnt sie schon mit der täglichen Leier. Um zwölf Uhr soll eine Besprechung bei Dr. Pauli stattfinden, ob ich nicht hinkommen wolle. Es wäre eine große Hilfe für sie. Sie würde es mir nie vergessen, (so wie sie mir die Weigerung nie verzeihen würde, denk ich im Stillen).

Ich habe ihr in der letzten Zeit wenig Freundlichkeit bezeigt. Es war zu schwer für mich. Ich kann nicht freundlich sein, wenn mir nicht so zu Sinn ist. Ich bin immer verdrossener, wortkarger und kälter geworden. Ich mache mir meine Lieblosigkeit selbst zum Vorwurf. Aber das Herz ist mir verstopft. Ich finde kein überbrückendes Wort. Auch jetzt nicht. Ich zucke die Achseln. Mir graut vor der Verhandlung in einer Anwaltskanzlei. Es sei unmöglich, sage ich. Sofort wird Ganna aggressiv. Ließe ich sie doch toben und ginge weg. Aber ihre Reden sind wie Leim, und an diesem Leim bleib ich kleben. Als sie es schändlich nennt, daß ich ihr nicht beistehe, für den sie sich opfere, bedeute ich ihr, ich hätte das Opfer nicht verlangt und nicht gewünscht, sie diene mir besser als Frau im Hause und Mutter unserer Kinder. Da sprüht eine Rakete von Hohn aus Gannas Mund. »Das der Dank! für einen solchen Mann verblut ich mich! für ein solches Ungeheuer! Das der Dank!« – »Auf Dank zu rechnen hattest du nicht Anlaß,« sage ich mit einer Ruhe, die Ganna hätte stutzig machen müssen, die aber gleichwohl ohne Eindruck auf sie bleibt, »so wenig wie ich auf ein Leben gerechnet habe wie das, das du mir bereitest.« – Ganna lacht erbittert. »Was heißt das? was für ein Leben? wie willst du denn leben? Als Hungerleider bis du weiße Haare kriegst? wo wärst du überhaupt ohne mich? frag dich doch.« – »Ich weiß nicht, wo ich wäre ohne dich, ich weiß nur, daß es mit dir so wie jetzt nicht mehr geht. Entweder machst du Schluß in der Sache mit der Wiese und verkaufst oder ich gehe meiner Wege und lasse mich von dir scheiden.«

Kaum ist das Wort gefallen, so verzerren sich Gannas Züge schreckenerregend. Denn dieses Wort, es ist noch niemals ausgesprochen worden. Niemals hat sie erwartet, es zu hören. Sie fühlt sich meiner so sicher als wäre ich ihr angewachsen wie ihr Arm oder ihr Bein. Es ist ihre Grundsicherheit, ihre Wurzelsicherheit. Möglicherweise liegt es, das fürchterliche Wort, in einer verschütteten Tiefe ihres Bewußtseins, wie ein Sprengkörper in einem Keller. Sie schreit. Der Schrei, es ist ein entsetzlich gellender Kehllaut, dauert fünfzehn bis zwanzig Sekunden und sie rennt dabei wie besinnungslos durchs Zimmer. Sie ist bestimmt nicht mehr bei sich. Bestimmt ist es nicht geheuer mit ihr. Trotzdem habe ich das Gefühl als verschaffe ihr der völlige Verlust der Selbstkontrolle einen gewissen Genuß, den Genuß der Ausartung, des seelischen Auseinanderrinnens wie ihn Epileptiker während eines Anfalls haben sollen. Indem sie mit furienhaften Bewegungen den Bademantel vom Leibe reißt, überschüttet sie mich mit einer Flut irrer Schmähungen. In allen Lagen ihrer hohl dröhnenden Stimme wirft sie mir unzählige Male das Schreckenswort zu: Scheiden. Fragend, rufend, kreischend, heulend, keuchend, mit zu Krallen verbogenen Fingern und grünsprühenden Augen. Und als ich den schauerlichen Ausbruch, der mir eine unbekannte Ganna enthüllt, schweigend über mich ergehen lasse, rennt sie zum Fenster splitter-fasernackt wie sie ist, und beugt sich mit dem ganzen Oberkörper über die metallene Brüstung als wolle sie sich im nächsten Augenblick hinunterstürzen. Blitzartig fällt mir die Szene auf dem Mondseer Balkon ein; sechzehn Jahre ist es her. Eigentlich tut der Mensch immer das nämliche, denk ich traurig, greift zu den nämlichen Mitteln, um den Andern unterzukriegen, zu den nämlichen Worten, den nämlichen Gesten, man vergißt es nur, fällt immer wieder darauf herein. Trotz meines qualvollen Zorns bleibe ich verhältnismäßig kalt. Ich weiß ja, sie wird es nicht tun, außerdem besteht wenig Gefahr, das Fenster liegt nur vier Meter über dem Hof, unten ist der Rasen, höchstens wird sie sich ein paar Rippen brechen. Aber die Gewißheit in mir, daß sie sich nicht hinunterstürzen wird, verleiht der Situation etwas finster Lächerliches. Gleichzeitig bricht der Zorn, der sich meiner bemächtigt hat, wie ein Strahl kochenden Dampfes aus mir heraus; seit Jahren und Jahren hab ich Ähnliches nicht verspürt ; mit einem Sprung bin ich hinter ihr, packe sie bei den nackten Schultern, schleudre sie aufs Bett und schlage mit den Fäusten blindlings auf sie ein. Wie das zugegangen ist, weiß ich heute noch nicht. Schlage auf sie ein wie ein Wirtshäusler. Wie ein Fuhrknecht. Ich, Alexander Herzog, schlage auf sie ein. Und Ganna ist ganz, ganz still. Sonderbar, weil sie so still ist, laß ich von ihr ab, stürme in mein Zimmer hinauf, schließe mich ein, falle in den Lehnstuhl und brüte regungslos über meinem Unglück.

Und was tat Ganna derweil? Später habe ich es durch einen Zufall erfahren. Ich fand einen versiegelten Umschlag auf ihrem Schreibtisch, darauf standen mit anklägerisch wuchtigen Buchstaben die Worte: Mein Testament. Als ich sie erstaunt fragte, wann und weshalb sie ein Testament abgefaßt habe, erzählte sie mir mit tränenüberströmten Gesicht, daß es in eben der Stunde geschehen sei, da ich sie geschlagen. Ich bat sie innig, nicht davon zu sprechen. Doch sie beschrieb mir ihre Verzweiflung und wie sie sich zugeschworen, die Wiese am selben Tag noch zu verkaufen. Einmal würde ich schon begreifen, was ich ihr, was ich mir selber angetan...

Von da ab gab es eine private Dolchstoßlegende in unserm Haus. Ganna ließ nicht von der Fiktion, daß ich ihr in den Rücken gefallen sei, als sie im Begriff gewesen, ein Millionenvermögen für mich zu erwerben. Diese Fiktion war Gannas Stütze bei allen ferneren Schicksalsschlägen, die sie erlitt. Darin glich sie besiegten Völkern und machtgierigen Parteien, daß sie ohne Sündenbock keine Möglichkeit hatte, vor dem Leben zu bestehen. Und Sündenböcke sind immer zu finden, da es ja ohne geteilte Verantwortung kein praktisches Handeln gibt.

Von Ganna mit dieser moralischen Hypothek belastet, deren Zinsendienst ich in gewohnter Willigkeit auf mich nahm, trat ich in einen neuen Abschnitt meines Lebens, den, um dessentwillen ich diese Bekenntnisse niedergeschrieben habe.


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