Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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Als Bettina den Brief gelesen hatte, wurden ihre Wangen und ihre Hände zu Eis. Sie brauchte über zwei Stunden, um sich zum Ausgehen fertig zu machen. Gerade als sie das Hotel verlassen wollte, wurde sie aus Ebenweiler, ihrem Wohnort, dringend angerufen. Die Stimme des Hausmädchens, einer Vertrauensperson Bettinas, sagte gepreßt: »Gnädige Frau, wir wollten Sie nicht aufregen...« – »Was ist los, Anna? Rasch, rasch!« – »Herr Herzog ist seit drei Tagen verschwunden...« – »Was soll das heißen, um Gotteswillen, wie: verschwunden? abgereist meinen Sie?« – »Nein, gnädige Frau. Er ist Donnerstag Abend mit dem Rucksack weggegangen. Er hat niemandem was gesagt und auch keine Nachricht gegeben.« – Der Hörer in Bettinas Hand wurde bleischwer. »Habt ihr Meldung gemacht? Bei der Gemeinde? bei der Gendarmerie? habt ihr Leute ausgeschickt?« – »Wir haben alles getan, gnädige Frau.« – »Weiß man nicht, welchen Weg er gegangen ist?« – »In Steinach soll er gesehen worden sein. Und Samstag Nachmittag im Lossachtal... ein Jäger...« – »Im Lossachtal? Das ist ja fünf Bahnstunden von uns...« – »Ja, gnädige Frau. Leider muß man fürchten, daß ihm etwas passiert ist...« – »Ich fahre sofort nachhause, Anna,« rief Bettina mit erstickter Stimme in die Muschel; »setzt euch mit dem Bürgermeister in Verbindung. Und mit der Expositur im Markt. Laßt an alle Ortschaften telephonieren. Verständigt das Radio. Ich komme mit der schnellsten Gelegenheit...«

Sie warf den Hörer auf die Gabel. Ihre Zähne klapperten. Weiß bis in die Lippen erkundigte sie sich bei der Hotelleitung nach der Abfahrt des Wiener Flugzeugs. Freilich hätte sie von Wien aus noch sieben Stunden Eisenbahnfahrt gehabt. Dazu der Aufenthalt. Das Flugzeug, wurde ihr mitgeteilt, starte täglich um sechs Uhr morgens. Ein Auto mieten, war ihr nächster Gedanke. Doch es war eine Dauerfahrt von fünfzehn Stunden, falls sich ein geeigneter Wagen fand und ein Chauffeur, der zu solcher Kraftleistung willens war. Das Herzogsche Auto war nicht verfügbar, Ganna hatte es beschlagnehmen lassen, sonst hätte Bettina es ermöglichen können, daß ihr der Wagen auf halbem Weg entgegenkam. Blieb nur der fahrplanmäßige Schnellzug, der um elf Uhr abends ging. Sie war dann am andern Mittag zuhause. Indes sie alles überlegte und mit den gefälligen Angestellten erwog, meinte sie, das Herz müsse ihr vor Ungeduld bersten. Das Kursbuch in der Hand lief sie zum Telephon und rief Kerkhoven an. Sie tat es, ohne sich zu besinnen, wie man die Polizei anruft, wenn Räuber in der Wohnung sind. Zwanzig Minuten darauf war er da. Sie empfing ihn in ihrem Zimmer.


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