Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Kleine Momentaufnahmen von Ganna

Doch war es damals noch außerordentlich schwer, sich gewissen bestrickenden Zügen ihres Wesens zu entziehen, ihren drolligen Vergeßlichkeiten, ihren närrischen kleinen Tölpeleien, ihrer Traumverfangenheit. Das hatte alles noch den Reiz der Jugend und wurde durch das Glück verschönt, von dem sie noch getragen war.

Sie liegt mitten in der greulichen Unaufgeräumtheit ihres Schlafzimmers selig hingegossen auf dem Divan und versieht Goethes Italienische Reise mit Bleistiftstrichen und Marginalien. Im Kinderzimmer brüllt der Säugling, denn sie hat indessen das zweite Kind geboren, meine Tochter Elisabeth, im Wohnzimmer hackt Ferry auf dem Klavier herum, im Flur liefern sich Köchin und Hausmädchen eine Schlacht, in der Gartenveranda unten keift Frau Ohnegroll mit der Stimme eines boshaften Kläffers. Dies alles berührt Ganna nicht. Sie hört es nicht. Sie schwelgt im Geiste. Da fällt ihr zufällig nach außen dringender Blick auf eine Rose, die ich ihr den Tag zuvor gebracht. Sie lächelt, erhebt sich und trägt das Glas mit der Rose zu ihrem Toilettespiegel hinüber. Jetzt hat sie zwei Rosen, im Spiegel ist noch eine...

Oder dies. Es ist Mai. Der Begriff »Mai«, gleichviel wie das Wetter sein mag, ist für Ganna nicht zu trennen von den Begriffen »Sonne« und »blauer Himmel«. Infolgedessen geht sie in einem dünnen Sergekleid und mit einem gebrechlichen Miniaturschirm ins Freie, wo ein eisiger Nordwind weht und alle Viertelstunden ein Regenschauer niederprasselt. Tut nichts. In ihrer Vorstellung ist »Mai«. Sie kommt zu einem Obststand und gewahrt die ersten Kirschen des Jahres. Herrlich, denkt sie, ich werde für Alexander Kirschen kaufen. Sie ersteht ein Pfund Kirschen. Man reicht sie ihr in einer Papierdüte. Diese hat aber unten ein Loch, und indes sie träumerisch heimwärts wandelt, (wenn sie allein ist, braucht sie sich nicht zu »hetzen«, da »genießt« sie das Gehen), indes sie also die eingebildete Mailuft »genießt«, fällt Kirsche um Kirsche durch das Loch in der Düte. Einige Leute drehen sich nach ihr um und grinsen. Das Trottoir hinter ihr ist in regelmäßigen Abständen mit roten Kirschen betüpfelt. Eine mitleidige Frau macht sie endlich aufmerksam. Wer vermöchte ihren Schrecken zu schildern! Gottseidank, die Straße ist nicht sehr belebt; sie geht zurück und sammelt die Kirschen sorgsam wieder auf...

Ja, eine weltfremde, tappsige, rührende Ganna. Eine Ganna, die man vor Beschädigungen und Wunden bewahren möchte. Wäre nur nicht der Krater im Untergrund, das aus der Tiefe herauflangende finstere Element, von dem man nie weiß, wann es losbrechen und was für Unheil es anrichten wird.

Weiblicher Don Quichote

Mit Irmgard hatte ich mich immer mehr angefreundet. Aus flüchtigen Gesprächen waren ernsthafte geworden, darnach hatten wir uns zu gemeinsamen Ausflügen zusammengetan, denn im Gegensatz zu Ganna war Irmgard eine ausgezeichnete Fußgängerin und Touristin. Sie hatte, ebenfalls im Gegensatz zu Ganna, eine geringe Meinung von sich und war mir dankbar für die Mühe, die ich mir gab, ihr Lebens- und Selbstgefühl zu kräftigen. Dessen bedurfte sie am meisten, obgleich sie ein fester und bestimmter Charakter war; doch hatte sie als Weib schon verschiedene Enttäuschungen erlitten, die sie mutlos gemacht hatten. Sie hatte eine besondere Art von Schönheit. Sie sah aus wie gewisse Plastiken von ägyptischen Prinzessinnen.

Eigentlich stand es mit uns so, daß wir uns jeden Augenblick hätten ineinander verlieben können. Es geschah nicht. Was es verhütete, war ein Etwas, das zwischen uns war wie ein von Ganna gezogener Zauberstrich. Irmgard hatte altmodische und sehr ehrenhafte Begriffe von ehelicher Liebe und Treue. Außerdem: der Mann der Schwester; der Gedanke ließ sie zurückschaudern. Auch ich wagte nicht, den Zauberstrich zu überschreiten. Gannas Argwohn wecken, hieß eine Feuersbrunst entfachen. Schon lauerte der Argwohn. So oft Irmgard davon sprach, zitterte sie wie ein Kind im Finstern, und mir erging es nicht viel besser. Immer wieder betonten wir voreinander die Reinheit unserer Gefühle und waren im Daraufachten so zurückhaltend, daß jeder Händedruck eine eigene Kühle, jeder Gruß eine überlegte Vorsicht bekam; dennoch schaute uns Ganna zu. Ganna stand unsichtbar daneben und paßte auf, daß ihr nichts von ihrer Sache gestohlen wurde, kein Blick, kein Hauch, kein Lächeln, kein Gedanke.

Vielleicht war es nur weibliche Neugier, ein bißchen Eifersuchtsneugier, die Irmgard eines Tages zu der Frage veranlaßte, was mich an Ganna feßle. Sie habe viel darüber nachgedacht und könne sichs nicht erklären. Ich wußte zuerst keine rechte Antwort. Dann sprach ich von Ganna als der ordnenden Prinzip in meinem Leben. »Wieso?« fragte Irmgard verständnislos, »Ganna ordnend? Ganna?« Ich sah ein, daß ich dies Irmgard schwer begreiflich machen konnte. Nach einigem Überlegen fand ich den Ausweg und nannte zum erstenmal das geistige Bild mit Namen, zu dem mich Ganna inspiriert hatte; ich sagte, es sei ein neuer Typus, der weibliche Don Quichote. Irmgard schüttelte den Kopf. Es war ihr zu hoch. Sie kannte doch ihre Schwester Ganna. Die Laufbahn vom Sargnagel zur idealistischen Windmühlenkämpferin leuchtete ihr offenbar nicht ein. Zaghaft bemerkte sie, es sei wohl eine dichterische Hilfskonstruktion von mir. Ich leugnete es.

Ein paar Tage darauf kam Ganna zu Irmgard, pflanzte sich steif vor ihr auf und sagte im Ton eines Polizisten, der eine Verhaftung vornimmt: »Ich verbiete dir, mit meinem Mann zu flirten.« – Irmgard erwiderte unwillig: »Ich habe nicht gewußt, daß Alexander dein Gefangener ist.« – »Verschaff dir selber einen Mann und laß meinen gefälligst in Frieden,« fuhr Ganna fort; Irmgard sagte nachher bitter, sie habe den Ton eines Hökerweibes gehabt, das bei einem Straßenauflauf seinen Gemüsestand verteidigt; »die Versuche, hinter meinem Rücken mit ihm anzubandeln, finde ich unerhört,« rief Ganna aus. Sie hatte eine besondere Art, das Wort unerhört auszusprechen; der Ton lag langgedehnt auf der letzten Silbe. Irmgard konnte sich nicht helfen, sie mußte lachen. Sie wies nach der Tür: »Skandal kannst du bei dir zuhause machen. Es scheint, du willst dich über Alexander beschweren. Ich bin aber seine Gouvernante nicht.« Als Ganna zornentbrannt gegangen war, konnte sich Irmgard wiederum nicht helfen: sie weinte.

Nachdem sie mir den Zwischenfall erzählt hatte, fragte sie spitz: »Wie ist das nun mit dem weiblichen Don Quichote? Willst du mir verraten, wo du da eine edle Narrheit siehst, lieber Schwager?« Ich war verlegen. »Man darf Ganna nicht nach einzelnen Handlungen beurteilen,« erwiderte ich; »man muß sie als Ganzes nehmen, als die ungebändigte Natur, die sie ist. Ihre Irrtümer, ihre Leidenschaften, ihre Fehlschlüsse, dem allen liegt eine grandiose Einheitlichkeit zugrunde. Warum nicht, edle Narrheit? Ihr habt sie doch immer verspottet. Das Lächerliche steckt sehr tief, dort, wo sie mit Phantomen kämpft. Alles wird ihr zum Phantom: die Menschen, die Welt, du, ich, sie selber. Von der Wirklichkeit weiß sie gar nichts.« Irmgard sah mir mit ihrem ehrlichen Blick versonnen ins Gesicht. »Armer Alexander,« flüsterte sie. – »Warum armer Alexander?« – »Ach, ich meine nur so...« – »Was meinst du?« – »Ich meine, vielleicht bist du es, der von der Wirklichkeit nichts weiß.«

Das »Menschliche«

Ich merke, daß Ganna lebhaft beunruhigt ist. Sie horcht, sie spioniert, sie sieht mich mit dem traurig forschenden Blick an, den die verlassenen Geliebten auf der Bühne haben. Um mich auszuholen, stellt sie mir schlaue kleine Redefallen. Wenn ich mich nicht fange, probiert sie es mit gröberem Geschütz. »Ich bin die unglücklichste Frau auf der Welt! »ruft sie aus und geht kreuz und quer durchs Zimmer als wolle sie die Wände niederreißen. – »Du siehst Gespenster, Ganna, das Unglück existiert nur in deinem Kopf. Irmgard ist ein viel zu anständiger Mensch, um sich auf fragwürdige Abenteuer einzulassen.« – »Irmgard? die geht über Leichen.« – »Aber Ganna!« – »Und du? du würdest mich betrügen?« – »Es steht mir der Sinn nicht darnach, Ganna.« – Sie wirft sich mir an die Brust. »Wirklich? du schwörst es mir? du schwörst, daß du kein Verhältnis mit ihr hast?« Ich muß lachen. Es ist so roh wie sie es vorbringt, man fühlt sich wie auf die Nase geboxt, warum lacht man eigentlich? Sie nimmt meine Hand zwischen ihre beiden, besieht aufmerksam den Handteller und sagt mit einem Ausdruck als sehne sie sich nach meinem Widerspruch, um das harte Urteil mildern zu können: »Die Herzlinie ist verkümmert. Hast du am Ende kein Herz, Alexander?« – »Ganz gut möglich,« entgegne ich, »aber worauf du deutest, ist, so viel ich weiß, die Verstandeslinie.« – »So?« sagt sie erleichtert, »Gottseidank.«

Sie kommt zu dem Schluß, daß sie mir vielleicht etwas mehr zu bieten haben, als Frau verlockender sein müßte. Sie schafft sich für teures Geld ein mondänes Parfüm an und gießt gleich einen ganzen Kaffeelöffel voll über sich aus, was des Guten entschieden zu viel ist. »Ich bin nicht raffiniert genug,« klagt sie mit einem Unterton von Stolz, »ich habe kein Talent zur Kokotte.« – »Nein, das hast du in der Tat nicht, Ganna,« bestätige ich und nehme die Gelegenheit beim Schopf, ihr zu sagen, daß sie immerhin zuhause nicht schlumpig herumgehen müsse wie sie zu tun pflegt. Sie zieht es sich zu Gemüt und kauft für bare fünfunddreißig Kronen einen falschen japanischen Kimono, in dem sie aussieht wie der Sarastro in der Zauberflöte. Aber die Pantoffeln, die sie zu dem Prachtstück trägt, sind schmierig und zertreten, und da sie die Strümpfe nicht befestigt, so lange sie sich nicht zum Ausgehen fertig macht, hängen sie ihr herunter und schauen unten aus dem Kimono hervor wie leere Wursthäute. Als sie meine Mißbilligung wahrnimmt, sagt sie ungehalten: »Ja, gut, die Bänder sind abgerissen, aber das hat doch mit dem Menschlichen nichts zu tun.« Natürlich nicht, ich hatte es auch nicht behauptet. Aber das »Menschliche« ist doch kein Geheimfonds, aus dem man nur in gehobenen Stunden schöpft und im Übrigen der Permeß für falschen Kimono, zerlumpte Pantoffeln und nachschleifende Strümpfe...

Schrei in der Nacht

In dieser Zeit stellt sich folgendes bei Ganna ein. Wenn tagsüber ein Streit, eine Meinungsverschiedenheit zwischen uns geherrscht hat, verdichten sich ihre Bitternisse und Unzufriedenheiten, die beständig zunehmen, im Schlaf, und sie befreit sich von ihnen in Form einer Explosion. Dann schreit sie. Es ist in der Regel ein einmaliger, gellender, fürchterlicher Aufschrei, der durchs ganze Haus schallt und alle Bewohner aus dem Schlaf schreckt. Nach und nach wird dieser Schrei zu einem grauenhaften Ereignis für mich, zu einem lebensverfinsternden Einschnitt. Ich erwache, wenn er ertönt, in einer Art als ob mir eine lange Nadel von einem Ohr zum andern durch den Schädel getrieben würde. Ich beuge mich im Finstern über sie, ich frage, ich will sie beruhigen. (Späterhin, als wir nicht mehr im gleichen Raum schliefen, stürzte ich, aufgeschreckt von dem Schrei, in ihr Schlafzimmer, während mir kalte Schauer über den Rücken liefen; manchmal kam mir der böse Verdacht, daß sie mich durch das gräßliche Röhren an ihr Bett zwingen wollte; sicherlich nicht bewußt ; aber um nicht allein zu sein; um mich nicht vergessen zu lassen, daß sie vorhanden sei und meinen Lebensraum ausfülle; aus Eifersucht auf meinen Schlaf; wer konnte das bei ihr ergründen?) Sie erzählt mir den Traum, der in dem Schrei gegipfelt hat. Seltsame Träume sind es oft, Träume einer martersüchtig ans Schicksal verratenen aufblicklosen Seele; Träume, die etwas Finsteres und Urweltliches haben, etwas Abstruses wie alles an ihr, was unterhalb ihres Wachseins vorgeht. Sie hat zum Beispiel von Irmgard geträumt, die rothaarig und mit blutendem Mund vor ihr stand; und der Mund war darum blutig, weil sie Gannas Herz in der Hand hielt und von Zeit zu Zeit hineinbiß wie in einen roten Apfel.

Die ich in Armen halte, um ihr Zuspruch zu spenden, ist die Mutter meiner Kinder, nicht das Weib, nicht die Gattin. Ihre aufgesammelten Schmerzen, Klagen und Vorwürfe ergießen sich wie ein Katarakt. In ihrer fieberhaften Beredsamkeit kommt sie vom hundertsten ins tausendste, vermengt Gestriges mit längst Vergangenem, Eingebildetes mit Wahrem und Halbwahrem, und wenn ich die eine Beschuldigung widerlegt habe, beginnt sie mit einer dreimal widerlegten von vorn. Es ist so unheimlich wie wenn jemand, ohne das gewebte Muster zu kennen oder anzuschauen, die wirren Fäden auf der Rückseite des Teppichs mit wunden Fingern aufdröselt. Ihr Hirn ist ein Behältnis für alle unreinen Wässer, die im Verlauf von Tagen hineingeströmt sind und jetzt überlaufen. Irmgard und immer wieder Irmgard. Wo ich sie getroffen, wie lang wir beisammen gewesen, wovon wir geredet. »Wenn du mich hintergehst, Alexander, ich weiß nicht, was dann passiert, ich nehme mir das Leben.« Dann: Daß ich ihre Autorität bei den Dienstleuten untergrübe. – »Du hast ja keine Autorität, Ganna.« – Ich widerriefe ihre Anordnungen. – »Gewiß, wenn sie unsinnig sind.« – Hätte ich mir nicht vorgestern seelenruhig die Frechheiten angehört, die das Fräulein zu sagen gewagt? – »Ich konnte dir nicht beistehen, du hast sie behandelt wie einen Hund.« – Die Antwort macht sie rasend; »na, weißt du, Alexander, na weißt du...« Unaufhaltsam sprudeln die unreinen Wässer aus ihr heraus, in die Dunkelheit starrend meine ich, der Kopf müsse mir springen. Nun kommt das Budget an die Reihe. Daß ich keinmal mit dem Taschengeld auslange; daß das Kapital von Jahr zu Jahr schmelze wie Schnee in der Sonne; daß der Schuft, der Fürst, noch keinen Heller zurückgezahlt habe. Ob ich die Kinder dem Elend preisgeben wolle? Und meine Kälte, meine Lieblosigkeit. »Aber Ganna! Ganna! ich und lieblos!« – Ja; wo ich nur könne, verleugnete ich sie; ließe mich von meinen aristokratischen Bekannten einladen und ginge heimlich hin. Schämte ich mich denn ihrer? »Sag mir offen, Alexander, schämst du dich meiner?« – Um mich dreht sich alles. »Schlaf endlich,« sage ich, »sei endlich still...«

Tod des Vaters, Wahnsinn der Mutter

Im Sommer 1905 starb Professor Mewis an einem Herzschlag. Gannas Schmerz war seltsam ungebärdig. Bis dahin war sie vom Schicksal so verwöhnt worden, daß sie dem Tod gewissermaßen noch keine Beachtung geschenkt hatte. Wie konnte sich der Tod erlauben, und so jählings noch dazu, das geheiligte Haupt der Familie Mewis zu fällen? Sie begann mit dem Verstorbenen Abgötterei zu treiben. Sie sammelte Reliquien, sammelte Bilder und Aussprüche von ihm. Sie wob Legenden. Sie ging mit dem Plan um, seine Biographie zu schreiben. Sie gab sich zum Ärger der Schwestern für seine Lieblingstochter aus; und daran glaubte sie selbst unverbrüchlich.

Doch der Herr war nicht mehr, der Mann mit der Eisenfaust. Dessen Name, nur genannt, sie innerlich hatte aufmerken lassen. Der Bilder- und Götzendienst war der letzte Respektszoll, den sie ihm erwies. Nun brauchte sie keinen Herrn mehr zu fürchten.

Bald nach dem Tod des Professors mußte Frau Mewis, immer für ein paar Monate des Jahres, in einer Anstalt interniert werden. Das Wrack war dem Druck des Wassers gewichen. Das Aufhören des seelischen Zwangs hatte die Krankheit frei gemacht. Ganna besuchte die Mutter wöchentlich ein- oder zweimal. Jedesmal quälte sie mich, ich solle sie begleiten. Eines Tages ging ich mit ihr. Wir wurden in einen Raum mit vergitterten Fenstern geführt. In einem Lehnstuhl saß die Irre und zerriß mit sonderbarer Wildheit eine Zeitung in kleine Fetzen. Sie mußte stets etwas zerreißen oder zerstören, Briefe, ein Buch, ein Kleidungsstück. Manchmal beschmierte sie auch die Wände mit Unrat.

Sie bezeigte keine Freude über unser Kommen. Mit hektisch glänzenden Augen und heiserer Stimme beschwerte sie sich, daß man sie widerrechtlich gefangen halte; sie habe deswegen an Seine Majestät den Kaiser geschrieben. Ganna sprach zärtlich auf sie ein, mir waren die Lippen versiegelt. So sympathisch mir die alte Dame in ihren ruhigen Tagen war, so abstoßend fand ich sie jetzt, so hassenswert in ihrer Krankheit. Der kranke Geist erregt nicht Mitleid wie der kranke Körper, sondern Furcht und Abneigung. Daß in den Adern meiner Kinder etwas vom Blut dieser Verstörten floß, war mir ein schlimmer Gedanke. »Ist er immer so auf den Mund gefallen, dein Herzallerliebster, oder hast du ihn erst so weit gebracht?« wandte sie sich mit anzüglichem Feixen an ihre Tochter. Ganna betrachtete dies als Aufforderung, ein Loblied auf mich und unsere Ehe anzustimmen. Darauf begann die Kranke in peinlich übertriebenen Ausdrücken von meinem letzten Buch zu schwärmen und versicherte, sämtliche Patienten des Hauses hätten es mit Begeisterung gelesen. Ich konnte es nicht mitanhören. »Wir wollen gehen, Ganna,« drängte ich. Als wir vors Tor traten, verabschiedete ich mich hastig von ihr und rannte davon.

Zweierlei Tempo:

dahinter liegt sehr viel Inhalt. Es geht bis in die Nerven, in die Stimmung, bis in die Umarmung. Am deutlichsten zeigt es sich natürlich in Gang und Schritt. »Geh mit uns spazieren,« bittet Ganna, »laß die Verabredungen sein, geh mit mir.« Ich willfahre ihr. Aber das froh begonnene Unternehmen endet in Hader und Mißvergnügen. Sie ist keiner körperlichen Anstrengung gewachsen, will es jedoch nicht wahrhaben und bezichtigt mich, ich ermüde sie absichtlich, um ihre Untauglichkeit beweisen zu können. Ich lasse den häßlichen Anwurf unwidersprochen, ich kann nicht allen ihren Beschuldigungen widersprechen, die Gannadialektik bringt einen um den Verstand. Mit ihr in die Landschaft wandern, schön. Aber die Lust vergeht mir schon, wenn sie ihre Vorbereitungen trifft. Sie hält sich nicht an die vereinbarte Zeit. Ich will unbelastet sein, sie hingegen schleppt alles mit, was ihr unentbehrlich dünkt: ein Buch, einen dicken Mantel, eine Decke zum Lagern, den Schirm für etwa einfallenden Regen, auch wenn kein Wölkchen am Himmel ist, die umfängliche Tasche mit Mundvorrat, Notizblock, Salben, losen Blättern und den Strohhut, der am Gummiband an ihrem Arm hängt. Sie kann nicht alles allein tragen, ich muß mitschleppen. Ich will marschieren, sie will schwelgen. Ich hasse es, die Gegend anzuschwärmen, sie ist verzückt über jeden grünen oder dürren Hügel. In ihrer Wonne schiebt sie ihren Arm in den meinen, aber da mich dies zwingt, mit ihr Schritt zu halten, das heißt nachdenksam Fuß vor Fuß zu setzen wie ein Invalide, reiß ich mich ungeduldig los und eile voraus. (Denn ich ging so schnell wie ich schnell atmete, schnell aß und schnell lebte; wie konnten wir da zur Gleichart und Gleichbewegung gelangen? Es war eine organische Unmöglichkeit.) Da bricht nun Gannas Erbitterung aus. Eine Frau, die zwei Kinder geboren und jedes acht Monate lang gestillt habe, verdiene Rücksicht und nicht ein so rüpelhaftes Benehmen wie das meine, so unglückliche Mienen, so herzloses Drängen und Jagen. Es ist wahr; ich bin nicht schonend genug ; ich lasse sie die physische Schwäche fühlen; ich bin nicht ritterlich genug; es ist wahr. Hätte sie nur das vom Kindergebären nicht gesagt. Kindergebären und Stillen ist in ihren Augen dasselbe, was für einen Feldherrn die gewonnenen Schlachten sind, preiswürdige Taten, für die sie mit dem Materdolorosa-Kranz zu ehren ist, als ob Kinder nur mittelst einer geheimnisvollen Tücke des Mannes erzeugt würden und die Frau, als unschuldiges Opfer, lebenslange Tributleistung für den schnöden Vertrauensbruch zu fordern habe. Wenn Ganna einmal eine dialektische Bastion erobert hat, stürmt sie unverdrossen vorwärts. Warum, so fragt sie in den Himmel hinauf, ist gerade ihr das Los beschert worden, an der Seite eines rohen Egoisten leben zu müssen, ihr, die so lächerlich bescheiden ist, die sich längst, Gott ist ihr Zeuge, längst abgewöhnt hat, etwas für sich zu wollen, die Tage und Tage mutterseelenallein zuhause hockt, während er sich seine Zerstreuung anderswo verschafft...

Es mag wahr sein, Ganna, manches mag wahr sein, aber hör doch endlich auf, schau doch, wie die Leute uns nachgaffen. Sie hört nicht auf, den ganzen Nachhauseweg nicht, beim Abendessen nicht, es ist ein eiferndes Gegrolle, ein schaurig-einfältiges Gewebsel, bisweilen schweig ich, bisweilen braus ich auf, ich kann mich nicht immer meistern, ich kann vor allem Ganna nicht meistern, es ist alles zweierlei, zweierlei Fühlen, zweierlei Schauen, zweierlei Tempo. Schließlich weiß ich mir keinen andern Rat mehr, als daß ich mich an den Flügel setze, ein Notenheft aufschlage und mit ungeschickt stolpernden Fingern, jeden Lauf, jedes Allegro erschwindelnd, ein Chopinsches Prelude, ein Stück aus den Davidsbündlern heruntertrommle. Auf einmal ist Ganna wie verwandelt. In einem Sessel liegend, lauscht sie mit den groß geöffneten Augen eines betenden Kindes. Was reizt mich eigentlich daran, sie mit meinen elenden musikalischen Stümpereien in Begeisterung zu versetzen? Vielleicht, weil da das zweierlei Tempo zum rhythmuslosen Chaos wird? Weil sie dann Abbitte leistet und mich herzt und auf Knieen vor mir liegt? Der Unterschied zwischen uns war der: sie vergaß alles, von einer Stunde zur andern, wie nur Engel oder Dämonen vergessen, ich vergaß nichts, in Ewigkeit nichts. Dabei wurde es immer dunkler in meinem Gemüt.

Das mystische Band

Aus der Zeit, da Irmgard sich mit dem Bergwerksingenieur Leitner verlobte, finde ich folgende Eintragungen in meinem Tagebuch: »Für Irmgard war ich nur ein Ruhepunkt, Station für ihre Sehnsucht. Seit sie mich aufgegeben hat, ist es als hätte sie sich selbst aufgegeben, etwas Welkes liegt über ihr. Wer sich aber selbst aufgibt, dem kann kein Gott mehr helfen, nur die beflügelte Seele bleibt jung, ihr ist die Liebe eingeboren, sie braucht sie nicht zu empfangen, sie gibt, weil sie hat, und ihre Bekümmernis kommt aus der Fülle nicht aus dem Mangel.« Und die andere: »Es gibt eine Traurigkeit, daß man sich der Länge lang auf die Erde legen möchte, um zu weinen; daß man mit einer wunden Zunge redet; daß die Luft wie ein Gebirg auf den Schultern wuchtet. Und doch ist alles nach der Natur der Dinge verlaufen. Wie schön, wenn zwei Menschen in Freiheit neben einander gehen und gleichsam im Bilde einander gehören. Dann ist auch im Schmerz des Verlustes ein bitterer Wohlgeschmack, und was so unbestimmt und unbeschwert hingeglitten ist zwischen Leidenschaft und Geschwistergefühl, ist noch nicht einmal zerschellt, weil es sich golden in die Erinnerung geschmeichelt hat. Meine Angstträume jede Nacht! Gestern Abend im Park, nachdem wir uns zum letzten Mal ausgesprochen und sie unbeweglich und mit weißem Gesicht vor mir stand, flog ein leuchtender Meteor in ungeheuerm Bogen über den Himmel...«

Seit auch die jüngste Schwester Traude geheiratet hatte, ihr Mann war ein Berliner Industrieller namens Heckenast, fühlte sich Irmgard als allein Übriggebliebene nicht mehr wohl zuhause. Und so griff sie zu, als der sympathische und kluge Leitner um sie warb. Mein Gefühl für sie hatte nichts an der ursprünglichen Frische eingebüßt, obgleich ich zu dieser Zeit begonnen hatte, mit anderen Frauen in Beziehung zu treten. Ihr Bild war mir teuer. Ich war sehr abhängig von Frauen. Ohne erotischen Rausch, ohne die zauberische Verstrickung der Sinne lebte ich nur halb. Irmgard wußte es. Sie erhob niemals einen Anspruch auf mich. An jenem Abend, von dem ich gesprochen habe, haschte ich nach einem langen Schweigen nach ihrer Hand und preßte meine Lippen darauf. Sie zuckte erschrocken zurück. Plötzlich fragte sie, nur so vor sich hin: »Wie stehst du eigentlich mit Ganna?« – Ich erwiderte: »Es hat sich nichts verändert. Es kann sich nichts verändern.« – Und sie: »Hast du nie daran gedacht, dich von ihr zu trennen?« – Ich schüttelte den Kopf. Ich sagte, der Gedanke sei mir nie gekommen ; mir wäre, fügte ich hinzu, als ginge ein solcher Entschluß ans Leben. – »Aber du betrügst sie doch fortwährend,« flüsterte sie mit leiser Verachtung, »und zugleich schläfst du mit ihr... machst ihr ein Kind nach dem andern... was denkst du dir dabei?« – »Du hast recht,« gab ich bedrückt zu, »trotzdem... meine Ehe mit Ganna steht über jeder Diskussion. Abgesehen von den Kindern... es ist da etwas... ich kanns dir nicht erklären, du mußt die Tatsache nehmen, wie sie ist.« – »Mit den Andern spielst du also bloß?« – »Unsinn, Irmgard. Du weißt sehr gut, daß ich nicht mit Menschen spiele. Versteh mich doch, es ist ein mystisches Band.« Genau das sagte ich. Irmgard antwortete mit einem scheu zweifelnden »Ja?« Sie glaubte mir nicht. Sie fühlte aber weder die Kraft noch das Verlangen in sich, mich in dem Glauben an das »mystische Band« irre zu machen. Vielleicht wollte sie auch nicht zu denen zählen, die mir die Gewissenskonflikte erleichterten, indem sie das »mystische Band« nicht berührten. Doch täuschte sie sich, wenn sie annahm, dieses Band existiere in Wirklichkeit gar nicht. Es war da. Es bestand aus Schuldgefühl und Gespensterangst. Es war durchwirkt von der Ahnung kommenden Verhängnisses, denn ich glaube, ich gehöre zu den Menschen, die ihr zukünftiges Geschick unwissend-wissend als lebendige Substanz in sich tragen.

Gannas Toleranz

Entsinne ich mich recht, so fiel meine sinnliche Abkehr von Ganna ziemlich genau in die Zeit, da wir die Villa Ohnegroll verließen. Die Wohnung war zu klein geworden, und wir zogen in ein Mietshaus am nördlichen Rande der Stadt, im Weinberggelände am Fuß des Kahlenbergs. Dort war vorerst nur der Halbstock frei; es war im November als wir einzogen, und bis zum Mai mußte ich mit meiner Arbeit abermals in einer Dachkammer Zuflucht suchen. Ich war nicht ungehalten darüber. Ich schlief und lebte unterm Dach wie in einer Sonderwelt. Die Decke war so niedrig, daß ich sie mit dem ausgestreckten Arm berühren konnte. Wenn ich die eiserne Tür hinter mir verriegelt hatte, war ich mit meinen Gebilden unerreichbar allein. Als ich dann nach Monaten in den Gannabezirk übersiedelte, war mir längst nicht mehr so wohl, obgleich ich in einem abgetrennten Trakt hauste. Es war eine wachsende Friedlosigkeit um Ganna. Sie lag im Kampf gegen alle Menschen. Sogar mit dem Hausmeistersehepaar hatte sie beständig Streit, entweder wegen Benützung der Waschküche oder zu zeitiger Torsperre oder Verhetzung einer Köchin oder verleumderischer Reden in der Nachbarschaft. Immer war etwas los. Immer mußte ich vermitteln, beschwichtigen und Abbittgänge machen. Und an schönen Abenden vollführten die Volkssänger in den Weinschenken der Umgebung einen rührseligen Lärm. Was blieb mir anderes übrig als das Haus zu fliehen, wenn mir unbehaglich darin wurde?

Als Ganna allmählich die Gewißheit erlangte, daß ich ihr nicht mehr treu war, erregte ihr dies großen Kummer. Was aber in ihrem tiefsten Innern dabei vorging, habe ich nie ganz erfahren können. Manchmal traf ich sie in Tränen, manchmal kam es zu einem erbitterten Ausbruch, manchmal schien es mir als finde sie sich ab und habe beschlossen, meine Seitensprünge zu dulden, ungefähr wie viele Frauen es hinnehmen, daß der Mann ins Wirtshaus geht. Da ich, um sie zu schonen, meist sehr heimlich verfuhr, tröstete es sie, wenn sie die Betreffende nicht kannte. Sie redete sich dann ein, daß auch andere Menschen sie nicht kannten. Und war dieses Versteckenspiel nicht aufrechtzuerhalten, so hatte sie einen anderen Trost; sie sagte sich, es handle sich ja nur um eine »Geliebte«, Trägerin einer Nebenfunktion. Denn sie, Ganna, war die angetraute Frau. Daran war nicht zu rütteln. Auch war der Welt der Glaube beizubringen, daß sie, Ganna bei meinen Liebesverhältnissen gewissermaßen die Oberaufsicht führte. Sobald nun ein neues weibliches Wesen in meinen Lebenskreis trat, das meine Gedanken und mein Herz gefangennahm, suchte Ganna vor allen Dingen die Gefährlichkeit der Rivalin festzustellen, das heißt, bis zu welchem Grad Gannas Besitzrechte unangetastet blieben. Ihr Gesamtverhalten entwickelte sich dann nach den Richtlinien einer Hauspolitik. Es war ungemein seltsam, wenn sie denen, die ihr nahe standen, auseinandersetzte, (oft wurde mir dies zurückerzählt), ein Mann wie ich müsse seelisch verarmen ohne frische Zufuhr von Erlebnissen; es sei wichtig für sein Schaffen, daß er nicht in der Familie einroste, zudem plage er sich mit seiner Arbeit so erbärmlich, daß man ihm einige Zerstreuungen gönnen müsse. Das ergab, wenn ich es klar hätte beurteilen wollen, wovor ich mich hütete, eine Praxis, die im Grunde auf eine literarische Kapitalsanlage der Liebeserlebnisse hinauslief. Was auf der einen Seite an Leidenschaften, an Zeit, auch an Geld, zum Beispiel für Reisen und Geschenke, verausgabt wurde, kam auf der anderen in gedichteter Form mit Zins und Zinseszins wieder herein. Jede Seelenbewegung, jeder Aufschwung setzte sich um in den Stoff zu einem Buch; das Buch wird gedruckt und bezahlt, und hat es gar noch Erfolg, so sind die Unkosten reichlich gedeckt. Das war Gannas Einsicht. »Man muß Einsicht haben,« sagte sie und ermahnte mich nur, nicht allzuviel von mir herzugeben, ihr zuliebe, als werde das Soll und Haben in ihrer Buchführung durch erotische Vergeudung ungünstig beeinflußt; »alle diese Frauen sind Vampire, sie wollen dir das Blut aus den Adern saugen,« warnte sie mich und zum Beweis dessen, daß entartete Weiber ihr Vernichtungsgeschäft an arglosen Männern in alter und neuer Zeit ungehindert betrieben hatten, las sie mir gelegentlich einschlägige Stellen aus der Christlichen Mystik von Görres vor.

Das sittliche Postulat

Ob Ganna sich innerlich grollend ins Unvermeidliche ergab oder ein Auge zudrückte, hing natürlich auch von meiner jeweiligen Freundin ab. So erregte die schöne Belgierin Yvonne ihr besonderes Wohlgefallen, weil sie ihr bei den spärlichen Besuchen in meinem Hause mit ängstlicher Rücksicht entgegenkam. Man hatte ihr ein Wort Yvonnes zugetragen, das sie entzückte, vielleicht nur, weil sie dessen tieferen Sinn nicht erfaßt hatte. »Niemals würde ich es wagen, dieser Frau den Mann abspenstig zu machen,« hatte sie gesagt, »daraus würde das schrecklichste Unheil entstehen.« Yvonne wußte wohl schwerlich, wie prophetisch ihre Äußerung war. Sie gestand mir einmal, Ganna sei der beunruhigendste Mensch, der ihr je begegnet sei. Es kam vor, daß sie sich so verstört aus meinen Armen löste, ganz plötzlich, wie wenn ihr Gannas winzige Faust die Kehle zugedrückt hätte. Als ich ihr vorschlug, ich wolle mit ihr reisen, wohin sie wolle, für wie lang sie wolle, erbebte sie und hauchte entsetzt: »Um Gotteswillen nicht. Du mußt bei ihr bleiben. Für mich wärst du doch immer bei ihr.« In diesem Fall war Ganna ihrer Sache sicher. Ihre Schwester Justine erzählte mir eines Tages spöttisch, Ganna habe ihr mit einem diskretseinwollenden Alkovenlächeln mitgeteilt: »Denk dir, er hat jetzt ein Verhältnis mit einer belgischen Komtesse.« Sogar die etwas stumpfe Justine war von dieser sonderbaren Prahlerei unangenehm berührt, und mich betrübte und empörte sie.

Wenn meine Freunde, die dieses lesen, den Kopf schütteln sollten, wird niemand ihre verwunderte Mißbilligung besser verstehen als ich. Ich höre sie fragen: wie hast du es ausgehalten? hast du keine Ahnung gehabt von der furchtbaren Gefahr, die du blind neben dir, hinter dir, um dich herum wachsen ließest? wie war es vereinbar mit deinem Gefühl für Wahrheit und Anstand, daß du die Frau immer tiefer ins seelische Leiden und in die Lebensunsicherheit gestoßen hast? denn ein Leiden war es doch, mochte sie sich in ihrem unzerstörbaren Optimismus noch so sehr darüber täuschen. In dem ganzen Verhältnis war doch Lüge; etwas in deiner Existenz war doch morsch... wie konntest du sie fortführen?

Das alles trifft nicht zu. Man darf das Bild, das ich hier male, nicht mit dem verwechseln, das ich in jener Epoche meines Lebens sah. Es ist schwer genug, die Erfahrungen von weiteren zwanzig Jahren, die dazwischen liegen, halbwegs auszuschalten, sodaß eine zeitbedingte Wahrheit entsteht von dem Ausmaß, wie ich sie in meiner damaligen Lage erkennen konnte. Das Schicksal verfährt oft mit uns wie der Verfasser eines Detektivromans. Stück für Stück und Schritt für Schritt enthüllt es uns einen Sachverhalt, der uns bis zur endgiltigen Aufhellung verborgen war, und die Überraschung, die wir dann erleben, rührt nur davon her, daß mit unserm Scharfsinn und unserer Urteilskraft ein geschicktes Spiel getrieben wurde.

Ich hatte ja einen unerschütterlichen Glauben an Ganna. Wenngleich es mich immer häufiger zu andern Frauen trieb und ich einer sinnlichen Verlockung nie widerstehen konnte, blieb ich ihr doch in einer mir selbst rätselhaften Weise verbunden, und diese Verbundenheit, die bei ihr mit der Gewalt einer Naturkraft in Erscheinung trat, war ein ehernes Gesetz, das mein Dasein bestimmte. Unmöglich, dagegen zu wirken, unmöglich, es zu übertreten. Alles andere konnte nur zeitweilige Abirrung sein. Dies beteuerte ich ihr auch, und die wiederholte heilige Beteuerung bestärkte ihr Sicherheitsgefühl und machte sie zügellos. Aber wenn sie auch noch so verwegen die Grenzen überschritt, die ihr gezogen waren, und diese Verwegenheit nahm allerdings von Jahr zu Jahr zu, so änderte dies doch nichts an meinem inneren Vertrauen, an meiner Bewunderung für die Außergewöhnlichkeit ihres Charakters, an dem Glauben an ihre geistige und seelische Kameradschaft, umsoweniger, als ich dergleichen Übergriffe oft nicht einmal sah oder als solche erkannte. Es ereignete sich unter anderm, daß sie ohne mein Vorwissen in einer deutschen Wochenschrift einen umfänglichen Aufsatz über mich und mein Werk veröffentlichte, eine verständige und ganz lesenswerte Abhandlung, wennschon mit den gängigen ästhetischen Floskeln jener Zeit reichlich gespickt. Einige meiner Freunde machten mich auf die Bedenklichkeit eines solchen Vorgangs aufmerksam; die Ehefrau eines Schriftstellers könne doch nicht als Dolmetsch seiner Ideen auftreten, meinten sie. Dem widersprach ich. Der Essay sei glänzend geschrieben, hielt ich ihnen entgegen, (das war er nicht) und wer wolle der Gattin verbieten, sich objektiv und würdig über das Schaffen des Gatten zu äußern? Ich war nicht sehr überzeugt von der Triftigkeit meiner Argumente, aber ich konnte ja Ganna nicht im Stich lassen.

Noch mehr erstaunten die mir Nahestehenden, als mein Buch »Die sieben Totentänze«, an dem ich volle vier Jahre gearbeitet hatte, mit einer feierlichen Zueignung an Ganna erschien, worin sich der Dank für die Helferin und Versteherin mit dem Ausdruck der Liebe für die Gattin und Gefährtin vereinigte. Diese Verherrlichung Gannas geschah aufrichtigen Herzens. Ich habe nie eine Zeile niedergeschrieben, in der ich mich verleugnete, bin nie imstande gewesen, ein Gefühl schönfärberisch zu überschminken. Es war ein freies Geschenk, das ich ihr damit darbrachte; und doch, es gibt Geschenke dieser Art, die durch geheimnisvolle Mittel erzwungen werden, sei es nur durch die ständige stumme Erwartung, die stumme Forderung einer Wiedergutmachung. Und dann: die Ganna in meinem Leben und die Ganna in meiner Phantasie waren zwei grundverschiedene Wesen. Verschmolzen wurden sie jeweils durch meine Dankbarkeit oder was ich so nannte, ein fließendes, dunkles Gefühl von Verpflichtung und Verschuldung. Das kam zu allem andern noch hinzu und hörte nicht auf mich zu quälen. Unbegreiflich warum, da ich ja, wenn überhaupt eine Schuld zu begleichen, ein Dank abzustatten war, sie tagaus, tagein, jahraus, jahrein mit meiner ganzen Person, meinem ganzen Sein bezahlte. Es war wie wenn ein längst freigesprochener Angeklagter nicht müde wird, dem Staatsanwalt die Beweise seiner Unschuld zu liefern. Diese martervolle Seelenverfassung führte dazu, daß ich die Ehe zu einem sittlichen Postulat erhob, dem keine Wirklichkeitsfolge entsprach; daß ich Ganna in eine luftleere Höhe hinaufidealisierte und ihr aus der Ferne, auf meinen vielen Reisen, die ergebensten, sehnsüchtigsten Briefe schrieb. Ich erdichtete eine schier überweltliche Bindung an sie und übersah, daß der irdische Mensch Alexander Herzog keinen festen Boden mehr unter den Füßen hatte. Ich erhob Ganna zu einem Prinzip, zu einer Idee, sie und die Kinder waren eins, drei Herzen, die in meinem drin schlugen und denen ich dienstbar zu sein hatte Zeit meines Lebens. Das wußte Ganna. Sie baute darauf. Der Grund, auf dem sie baute, erschien ihr tragfähig genug für die schwerste Belastung.

Schwund des Kapitals

Die Sorgen bringen Ganna um den Schlaf: von der stattlichen Mitgift ist kaum mehr der zehnte Teil vorhanden. Da abgemagerte Konto beleuchtet wie ein von letzten Holzresten gespeistes Feuer eine leichtsinnige Lebensführung, ein frevelhaftes Vertrauen auf fürstliche Einkünfte, eine Lotteriewirtschaft mit einem Wort. Die Einkünfte aus meinen Bücher sind zwar nicht unerheblich, kommen aber gegen den Verbrauch nicht in Betracht. Die Hoffnungen, die ich auf sie setze, eilen immer dem Erfolg weit voraus. An einen Ersatz des Heiratsgutes womit sich Ganna beim Beginn der unsoliden Gebarung getröstet hat, ist nicht zu denken.

Infolgedessen sieht man sie wie einen verhärmten Kanzlisten tagtäglich über Rechnungen und Belege gebeugt und mit gerunzelter Stirn in dem riesigen Haushaltungsbuch, das sie sich angeschafft hat, Zahlenreihe um Zahlenreihe addieren. Nebst den bedeutenden Ausgaben für Miete, Löhne, Reisen, Versicherungen, Küche und Kleidung handelt es sich dabei um endlose kleine Posten und Pöstchen für Seife, Zwirn, Trambahnfahrten, Bettler, Briefmarken, Stiefelbesohlung; jeder Heller wird aufgeschrieben. Ich sage: »Ganna, du machst dir doch überflüssige Arbeit, leg doch ein Sammelkonto für all das Nebenbei an.« Das will sie nicht. Die pedantische Genauigkeit hat ihren Grund: es fehlt Ganna am Überblick im Großen, und sie verbirgt sich diesen Mangel durch eine Aneinanderreihung des Kleinsten. Sie muß tausend Nichtigkeiten im Kopf behalten, und wenn es dabei zu Verwirrungen kommt, sind sie nicht verzeihlich bei einer Frau, die nie ohne einen Band Nietzsche oder Novalis zu Bett geht und achthaben muß, daß der gemeine Alltag nicht ihre edlen Gedankenflüge lähmt? Leider verliert sie darüber nicht selten die Haltung, die sie mir und sich schuldig ist. Sie schnauzt mich an wie ihren Hausknecht, wenn ich mich zu einer unbesonnenen Geldausgabe verleiten lasse. Gleich marschiert die drohende Zukunft auf. Das Hungertuch, an dem die Kinder nagen werden, hängt schon vor der Tür. Ich hatte damals einen Freund in Berlin, den ich sehr liebte, einen Mann von hohen Gaben und größtem menschlichen Format. Er kämpfte schwer mit der Not. Ich half ihm bisweilen aus, freilich nur mit allzu geringen Beträgen. Ganna will auch die nicht konzedieren. Sie »sieht es nicht ein«. Es gibt andere, reichere, die sich »solchen Luxus« leisten dürfen, findet sie. Das Hemd sei einem näher als der Rock, behauptet sie. Die Familie geht vor. Mit den siebzehnhundert Kronen, die der Schuft, der Fürst, noch immer schulde, könnte man mit den Kindern über den Sommer ans Meer fahren, was sie »bitter nötig« hätten. Ich stelle in Abrede, daß die Kinder eines Aufenthalts am Meer bedürften; sie erfreuen sich einer blühenden Gesundheit. »So?« blitzt mich Ganna entrüstet an, »hat nicht Doktor Blau bei Elisabeth eine Neigung zu Bronchial-Katarrh festgestellt?« Ich wage einzuwenden, für die Summe, die sie jährlich für unnotwendige Arztvisiten ausgebe, könne sie nicht nur nach Biarritz reisen, sondern sich außerdem noch ein halbes Dutzend Pariser Toiletten anschaffen und brauche nicht in pittoresken Gewändern eigener Erfindung herumzugehen. Ganna schreit auf wie eine verwundete Wölfin. »Meine Einfachheit wirfst du mir vor? Pariser Kleider soll ich mir anschaffen? Bin ich denn die Odilon? Und auf die Ärzte verzichten, wenn meinen Kindern was fehlt? Du freilich würdest die Armen ruhig leiden sehen.« Was soll ich antworten? Daß ich die »Armen« in der Tat »ruhig leiden« sehen würde, da ich zur Natur mehr Vertrauen hätte als zu den Rezepten der Herren Doktoren Blau und Grün? Es gibt eben keine Fakten und Erfahrungen für Ganna, es gibt nur augenblickliche Triebbefriedigungen, die wie innere Kurzschlüsse wirken und den ganzen seelischen Beleuchtungsapparat zerstören. Wenn sie mir auf vorgestreckten Unterarmen das Haushaltungsbuch präsentiert wie eine Gesetzestafel oder das niederschmetternde Verzeichnis meiner wirtschaftlichen Sünden aufzählt, bin ich auf einmal kein schöpferischer Geist mehr, kein Perikles am Arm einer Aspasia; ich bin dann der gewissenlose Aufbraucher ihrer Mitgift, des heiligen Kapitals, das der Stammvater Mewis für ihren und ihrer Kinder lebenslänglichen Nutzgenuß bestimmt hat. Mit leidenschaftlicher Geschwätzigkeit rühmt sie sich, daß sie durch die Entdeckung einer billigen Bezugsquelle für Obst und Gemüse mindestens hundert Kronen im Monat erspart, übersieht aber dabei, daß diese Ersparnisse durch die Unfähigkeit und Zuchtlosigkeit ihrer Dienstleute dreifach wieder zum Teufel gehen. Aber das darf ich nicht einmal andeuten. Sie würde rasen. Ich weiß mir keine rechte Hilfe. Ach, Ganna, denk ich mir oft, was soll man nur tun, damit dein Gemüt zur Ruhe kommt und dein Geist die Dinge reiner sieht? Dazu bestand freilich wenig Aussicht, und die folgenden Ereignisse begruben meine schwache Hoffnung endgiltig. Ganna war jetzt zweiunddreißig Jahre alt, und wenn der Mensch im allgemeinen in diesem Alter nicht mehr lenkbar ist, sie war es durch Blut und Veranlagung ganz besonders nicht.


 << zurück weiter >>