Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

42

Ein Mensch allein kann die Herrschaft über sich behalten und für sich einstehen; ein vom Schicksal zusammengefügtes Paar unterliegt andern Gesetzen; das Doppelwesen stellt eine Verklammerung dar, derzufolge die Wege, die sie als Einzelne genommen, schon rein physikalisch, wie durch den Einfluß der Schwerkraft, verändert werden. Dies spürte Marie am ersten Tag der Wiedervereinigung mit Joseph Kerkhoven. Darin lag etwas von dem Magischen jeder blutbedingten Ehe. Die Freude des Wiedersehens, Einanderwiederhabens war ein Sturm; niederreißende Gewalt. Nichts mehr von Schwäche bei ihm; kein Erloschener; in ihr keine Angst mehr, kein räuberisches Bild eines Andern. Nur durch Ruhe, durch meisternde Überlegenheit war sie in der Umarmung zu gewinnen, und jetzt besaß er sie, die Ruhe, die Marie berauschte und in der Lust untergehen ließ. Es gab Augenblicke, in denen sie vor Glück schluchzend an seinem Hals hing und alles vergaß, was in den Monaten der Einsamkeit an ihr genagt hatte, das tiefe Ungenügen innen, die Bitternis und Finsternis der Schicksale außen. Ja, sie vergaß es, für eine Weile wenigstens; das Blut in ihr vergaß, das Weib in ihr vergaß. »Dürfen wir denn so jung sein, so verrückt?« fragte sie verwundert; »es kommt mir fast gottlos vor.« – Kerkhoven antwortete: »Nur die Furcht vor dem Altwerden macht alt. Wir sind, was wir uns scheinen. Gottlos? Aber Marie! für diese eine Nacht habe ich ein Jahr meines Lebens geopfert.« Marie stutzte. Es klang nicht ganz aufrichtig. Es war eine kaum merkbare Übertriebenheit im Ausdruck, die sie betroffen machte.

Sie war ihm bis Mailand entgegengefahren. Die Kinder hatte sie bei Freunden in Stuttgart gelassen. Von Mailand fuhren sie ins Tessin und blieben ein paar Tage in einem stillen Ort zwischen Weinbergen. Sie gingen viel in der Landschaft herum; Kerkhoven erzählte und Marie erzählte. Doch es war immer als verhehlte jeder dem Andern das Eigentliche und Wesentliche, das, woran jeder fortwährend dachte und was ihn zutiefst beschäftigte. Der Unterschied war nur der, daß Marie, mit ihrem Spürsinn, alsbald dahinterkam und Kerkhoven nicht. Sie fand nicht die Möglichkeit, nicht die Worte, vielleicht auch wegen dessen, was er vor ihr verbarg, nicht das Vertrauen, von dem schweren inneren Erlebnis zu sprechen, das sie in eine Krise gestürzt hatte und das jetzt von neuem, da das Leben wieder sein Alltagsgesicht bekam, in ihr zu wühlen anfing; und er, nun, er fragte nicht. Er war noch um einen Grad versponnener und in sich gekehrter als sie ihn gekannt. Mochte sein, daß er sich nach dem langen Müßiggang, zu dem ihn die Reise verurteilt hatte, nach der Arbeit sehnte. Er hatte ja von vorn zu beginnen, wußte aber noch nicht recht, wo und wie; er besprach allerlei Projekte mit ihr, aber dahinter war eben noch das andere, und Marie spähte und suchte; manchmal durchforschte ihr heimlicher Blick mit geschärftester Aufmerksamkeit sein sonnverbranntes Gesicht, die von wechselnden Schatten und Lichtern belebte Stirn, die sinnenden Augen unter den halbgesenkten Lidern. Was hat der Mann? fragte sie sich; was geht mit dem Mann vor?


 << zurück weiter >>