Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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Es war nichts, was mit Bewußtsein und Urteil zu tun hatte. Kerkhoven bezeichnete es Bettina gegenüber als eine elementare Verfinsterung, einen Rost, der die Seele überzogen hatte und sie zerfraß. Bettina stimmte ihm bei. Sie nannte es das eingefrorene schlechte Gewissen. In Ganna hatte es seinen Nährboden, Ganna war die Erregerin; so lange Ganna war, war auch Schuld. Hätte er ihr Millionen in den Schoß geworfen und alles Glück der Erde verschafft, die Schuld wäre geblieben. Kerkhoven hatte ein Gleichnis dafür: Ganna und Alexander waren wie zwei übereinandergeschobene Kreisflächen, die zwar niemals in eine konzentrische Lage kamen, aber bisher auch niemals außer Kontakt gesetzt werden konnten, und wo immer der Alexanderkreis vom Gannakreis bedeckt wurde, entstand jene Verfinsterung, jener Seelenrost. Er erklärte es ihm selbst so. Das Phänomen ließ ihn nicht ruhen. Er fragte ihn über seine Kindheit aus, über seinen Vater und seine Mutter. Der frühe Tod der Mutter, die gedrückten Verhältnisse, in denen die Familie gelebt, der verzweifelte Kampf des Vaters um die Existenz, ein Lebenslauf in absteigender Linie; Heirat mit einer zweiten Frau, einer kaltherzigen, geizigen, berechnenden, ungebildeten Kleinbürgerin, das alles hatte viel zu bedeuten und war aufschlußreich. Kerkhoven hatte eine liebevoll-geduldige Art, Alexander mitteilsam zu machen, hütete sich aber wohlweislich, in ihm die Vorstellung eines ärztlichen Privatissimums zu erwecken; das sollte es ganz und gar nicht sein, sondern eine Aussprache unter Freunden, und daß sich Marie und Bettina, zwar nicht regelmäßig, doch so oft es anging hinzugesellten, war fast selbstverständlich. Übrigens erfuhr Bettina dadurch mancherlei aus Alexanders Leben, wovon sie noch nicht wußte und was sie tief berührte.

Die Gestalt der Stiefmutter trat für eine Weile in den Vordergrund. Es war so lange her; fünfzig Jahre; ein Menschenalter; damals war mein Vater noch ein junger Kapellmeister und ich noch lange nicht auf der Welt, mußte Bettina denken, und Alexander kam ihr in diesen Augenblicken wie ein uralter Mensch vor, der durch eine Vergeßlichkeit der Natur seine Jugend bewahrt hatte. Deshalb klang seine Erzählung wie ein Märchen aus verschollener Zeit; Stiefmutter war ja auch ein Märchenmotiv, heute gab es die Figur im abschreckenden Sinn kaum mehr. Kerkhoven konnte feststellen, daß das tyrannische Weib eine bereits vorgebildete Ganna war, eine Deutung, die Alexander aufhorchen ließ; es war seine eigene Lehre, daß jeder Mensch immer wieder mit denselben Charaktertypen in verschiedenen Abwandlungen zu tun hat, und diese bestimmen jeweils seinen Weg. Nicht lange nachdem die Frau ins Haus gekommen war, hatte sie sich zu seiner Peinigerin gemacht. Einmal hatte sie ihn wegen einer zerrissenen Hose halbtot geschlagen. Sie zählte die Zuckerstücke in der Büchse und markierte die Brotlaibe. Der Diebstahl von einer Handvoll Kirschen wurde mit den grausamsten Strafen gesühnt. Entziehung der Mahlzeit war noch die gelindeste. Um den Hunger zu stillen, trank er in der Nacht den Milchtopf leer, was greuliche Untersuchungen und Verhöre zur Folge hatte. Wenn sie ihm an Wintermorgen, bei unvollkommenem Tag noch, die Bettdecke wegriß, um ihn zum raschen Aufstehen zu zwingen, hatte sie die Miene und die Gebärden einer Furie. Unheilbarer in die Erinnerung geätzt war die irrsinnige Wut, die sie ergriff, als sie von seinen frühen schriftstellerischen Versuchen Wind bekam. Das war um sein vierzehntes Jahr herum. Sie verlegte sich mit Ingrimm aufs Spionieren, fast immer gelang es ihr, die von ihm beschriebenen Blätter zu erwischen, und die warf sie dann höhnend und geifernd ins Feuer. Er hatte sich in späteren Jahren oft nach dem Grund dieses unverständlichen Hasses gegen »das Schreiben« gefragt. »Das ist doch wieder gar nicht gannahaft,« bemerkte er zu Kerkhoven, »das Widerspiel eher.« – »Das Widerspiel ist oft das nämliche Spiel,« sagte Kerkhoven nachdenklich. Konnte nicht eine instinktive Angst vor Verrat dahintergesteckt haben? Wer Übel in sich aufhäuft, muß Verrat fürchten. Oder war es die radikale Abwesenheit von Phantasie in dieser unheimlich platten Natur, die sie gegen alles Phantasie- und Traumähnliche in Harnisch brachte, da es ja, allem Erwerb und Besitz feindlich gesinnt, die Lebensbedrohung an sich war? Vor nichts graut dem Kleinbürger mehr als vor Phantasie und Traum. – »Wie hat sich denn Ihr Vater dazu verhalten?« forschte Kerkhoven, für den dieser Bericht eine unerwartete Aufhellung war. – »Mein Vater hatte ein so aufreibendes und freudloses Leben, er plagte sich derart mit Geldverdienen und war immerfort in solchen Sorgen, daß er einfach nicht sehen wollte, was vorging. Ich erinnere mich, wenn er am Abend heimkam und sich die Stiefmutter vor ihm aufpflanzte und ihm das Register meiner Sünden aufzählte, daß er dann sonderbar verlegen dasaß, seine Suppe löffelte und mich kopfschüttelnd anschaute; und dann wurde er auf einmal von seinem Jähzorn überwältigt, sprang auf und versetzte mir eine so schreckliche Ohrfeige, daß mir das Hirn im Schädel schepperte. Er liebte die Musik und hatte eine gewisse Ehrfurcht vor den Klassikern, aber er hielt diese Neigung für eine Schande, wenigstens seitdem er die zweite Frau geheiratet hatte, meine Mutter hatte sich ja in der Welt der Händler und Kaufleute wie eine Eingekerkerte gefühlt. Eigentümlich ist das letzte Bild, das ich von meinem Vater in mir herumtrage. Warum es in mir haften geblieben ist, weiß ich nicht, denn es hat gar keine Bedeutung, es drückt nur etwas aus von seiner steten... was war es nur? Verlegenheit, ja, Verlegenheit. Es war wenige Tage vor seinem Tod, deswegen hab ichs wohl auch nicht vergessen können. Ich kam mit Ganna im ersten Jahr unserer Ehe aus Italien zurück, wir mieteten in einem Dorf am Brenner ein Häuschen, und ich lud meinen Vater zu uns ein, damit er Ganna kennen lernte. Das betrachtete er als eine große Ehre, er war sehr stolz auf mich, die Achtzigtausend-Kronen-Mitgift war für ihn der Gipfel des irdisch Erreichbaren. Ganna erwies ihm außerdem alle mögliche Liebe, und er schloß sie mit einer Dankbarkeit in sein Herz, die ihn mir in einem neuen Licht zeigte. Als er beiläufig erwähnte, diese Tage seien seine ersten Ferien seit siebenunddreißig Jahren, überblickte ich ein Leben sklavischer Fron, an das ich in meinem geistigen Hochmut bis jetzt nicht einmal hingedacht hatte. Aber ich wollte nur erzählen, was auf dem Bahnhof geschah, als er wieder nachhause reiste. Ich hatte ihm die Fahrkarte gekauft und brachte sie ihm. Da starrte er mich so verwundert und erschrocken an wie wenn ich ihm eine Rolle Goldstücke zugesteckt hätte. Um seinen Mund zuckte das verlegene Lächeln, das mich selber verlegen machte, deshalb schaute ich von seinem Gesicht weg auf seine Hand, in der er den Schirm trug, einen alten, schäbigen Regenschirm, oben mit einem schwarzen Band verschnürt, in der Mitte gebauscht; man sieht solche Schirme auf Bildern von Spitzweg oder Leibl. Und die Hand... es war eine zittrige verbrauchte Hand, nicht wie bei einem Mann von sechsundfünfzig, sondern von neunzig Jahren, sie war behaart und mit kleinen gelben Flecken bedeckt; der Zeigefinger rieb sich fortwährend an dem Messingring, der die Schirmstäbe zusammenhielt. Das prägte sich mir so stark ein, dieser Zeigefinger; er machte gleichsam die Verlegenheit offenkundig, die den Mann von oben bis unten erfüllte; später hatte ich die tolle Idee, daß etwas in ihm den nahen Tod vorauswußte und er darum so verlegen war wie einer, der mit einem Geheimnis Abschied nimmt, das er aus Anständigkeit verbirgt. Aber es war wahrscheinlich nur so, daß ihm die richtigen Worte fehlten. Er hatte eine wunderbare Handschrift, monumental und kalligraphisch, und sein Stil war das Muster von kaufmännischem Schwung, aber mit den Worten stand er auf Kriegsfuß, sagen konnte er nur das unumgänglich Notwendige... Aber schwatz ich da nicht dummes Zeug? Ist das alles überhaupt interessant?«


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