Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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Es war nicht etwa ein Vertrauensbeweis Aleids, als sie der Mutter eines Nachts von dem Mann erzählte, den sie geliebt hatte; das Wort Liebe kam natürlich nicht über ihre Lippen; es war wohl auch ein abgestandener Begriff für sie, auch eine von den »hunderttausend Lügen«. Es war auch nicht so, daß es sie zu einem Bekenntnis drängte; sie wollte eher der Mutter vor Augen führen, wie berechtigt ihre Ablehnung aller positiven Lebenswerte war und daß es für sie und ihresgleichen keinen Grund gab, an irgendetwas in der Welt zu glauben außer an das Böse und daran, daß mit dem Tod alles zu Ende war.

Sie zeigte keinerlei Bewegung. In demselben Ton hätte sie von einem gleichgültigen Bekannten reden können. Sie ging sogar so weit, sich über seine leidenschaftliche Vaterlandsliebe, den Schmerz über die politische Erniedrigung lustig zu machen. Dennoch trat hinter der gewollten Nüchternheit und Skepsis das Bild eines ungewöhnlichen Charakters hervor, eines jener gläubigen Unerbittlichen, die jederzeit bereit sind, sich für ihre Idee auf dem Märtyrerstein schlachten zu lassen. »Ich habe Briefe von ihm, die müßtest du lesen,« sagte Aleid; sie saß in verkrümmter Haltung da, die Beine übereinandergeschlagen, das Kinn fast auf dem einen Knie, eine Zigarette zwischen den Lippen; »vielleicht geb ich sie dir mal. Dieser Idealismus; zum Totlachen. Menschheitsglaube! zu blöd! Es kommt mir so vor wie wenn ich sage, ich glaube... na an was denn gleich? an die Kerzenfabrikation. Hie und da gibts noch Kerzen, gewiß, aber sie sind doch ein komischer Artikel; so für ganz poweres Volk; nein?« Sie warf die Zigarette fort und fing an, die Fingernägel zu benagen.

Freunde hatten Geld für seine Flucht gesammelt. Er weigerte sich zu fliehen. Das Geld, zweihundert Mark, nahm er und schenkte es notleidenden Kameraden. Er hatte nie eine richtige Wohnung. In einem Bett hatte er seit Jahren nicht geschlafen. Seine Augen waren seit dem Krieg ruiniert, zuletzt hatte ihm Erblindung gedroht. Er wußte es und tat nichts dagegen.

Blumen hatte er über alles geliebt; »du siehst, was für ein phantastischer Kerl er war«; man konnte ihm keine größere Freude machen als wenn man ihm einen Strauß Feldblumen brachte. Bedrückt fragte sich Marie: ist man wirklich ein »phantastischer Kerl«, wenn man Blumen liebt? Im Zusammenhang damit berichtete Aleid etwas seltsam Schauerliches, das sich bei seiner Ermordung zugetragen hatte. Der Mensch, der ihm von hinten mit dem Ausruf: verreck, du Hund! eine Kugel in den Kopf geschossen hatte, trug einen kleinen Büschel Maiglöckchen im Knopfloch. Als Hildenbrand auf dem Pflaster lag und der Mörder sich über ihn beugte, um sich zu vergewissern, ob er tot sei, sah der vor Schrecken erstarrte Begleiter, daß der Sterbende entzückt-verwundert mit der Nase in der Luft schnupperte und vernahm noch die Worte, mit denen er seine Seele aushauchte: wie gut das riecht! wie gut das riecht!...

Die absichtsvoll unbeteiligte Art, in der Aleid dies erzählte, ungefähr wie man eine Anekdote von einem schnurrigen Sonderling erzählt, trieb Marie die Röte der Entrüstung ins Gesicht. Sie sah eben nicht bis auf den Grund. Sie ließ sich täuschen von einem Zynismus, in den sich Aleid verbiß wie ein geprügelter Hund in den Stock, mit dem man ihn geschlagen hat. Und während die Smaragdaugen mit herausfordernder Fühllosigkeit (so empfand es Marie erbittert) auf sie gerichtet waren, verlor sie die Ruhe und herrschte sie an: »Hör auf, deine Nägel zu beißen! es macht einen ja ganz toll.« – »Das versteh ich, Mutter,« gab Aleid mit dreister Gelassenheit zurück, »es hat ja auch was zu bedeuten, wenn mir recht ist; Verzweiflung... sich selber aufessen... mußt es doch wissen, als Frau von einem hochgelehrten Haus. Ja, die Aleid verspeist sich selber, aber sie schmeckt sich nicht. Pfui Teufel.« Sie lachte grell.

Ihr Lebensmut war in der Wurzel gebrochen. Auch alle Fähigkeit zur Hingabe. Das unterlag für Marie alsbald keinem Zweifel mehr. Wissenschaft, Kunst, Religion erschienen ihr als die verlogenen Ausflüchte einer Menschheit, die von Idioten und Verbrechern in Gehorsam gehalten wurde. Wenn man ihr von Vernunft, von Seele, von Gerechtigkeit sprach, schüttelte sie sich, fuhr sich mit allen zehn Fingern durch die roten Haare und grinste wie ein kleiner Satan. Das Eigentümliche war, daß es Marie nicht über sich brachte, mit Joseph über Aleid zu reden; ein paarmal nahm sie einen Anlauf, doch das Wort blieb ihr in der Kehle stecken. Eine unerklärliche Scham hinderte sie daran, ihr war als gäbe sie sich selbst damit preis, als enthülle sie ihre traurige Unzulänglichkeit, noch dazu der leiblichen Tochter gegenüber; ihr Kind war es, nicht seines. Und wieder einmal vor ihm stehen mit dem Bekenntnis: ich kann nicht weiter, ich habe versagt –? Nein.

Hätte nur nicht Aleids ganzes Wesen alle Abwehrtriebe in ihr aufgeweckt. Jedes Wort fügte ihr eine Wunde zu, jeder Blick, jede Geste beleidigte sie. Haltlos schwankte sie zwischen Widerwillen und Erbarmen, zwischen Gereiztheit und schmerzlichem Begreifen. Oft fragte sie sich: was hab ich gemein mit dieser fremden Person, die ich in einem andern Leben geboren habe? und oft wieder dünkte sie als sei sie eines Leibes und Herzens mit ihr, und sie müsse sie retten und in den lichten Bezirk hinübertragen, den sie selber freilich nur wie durch einen Dämmerschleier sah, unsäglich weit weg.

Es erschütterte sie zutiefst, als Aleid eines Tages in ihrer würgenden inneren Not mit dem Plan herausrückte, sie wolle fürs rote Kreuz nach China gehen. Es war die pure Rebellion. Wie fast in jedem jungen Menschen war ein feuriges Bedürfnis nach Redlichkeit und Wahrheit in ihr. Mit diesem Anspruch war sie in der Welt, aus der sie kam, schroff zurückgewiesen worden. Daß der Mensch, an dem sie mit einer Leidenschaft gehangen, deren Ausmaß ihr selbst kaum bewußt war, an den sie geglaubt hatte, zum ersten und einzigen Mal wirklich geglaubt, um einer Idee willen, einer reinen Hingabe wegen, gehaßt, verfolgt, gemordet worden war, das konnte und konnte sie nicht fassen, sie dachte sich das Hirn krank darüber. Warum denn? grübelte sie mit verzerrtem Gesicht, wo liegt denn da eine Schuld, wie kann denn das möglich sein? Ihr war zumut als rinne ihr das Herz aus. Und wenn sie sagte, sie wolle nach China gehen, so hatte auch das keinen Sinn und Inhalt für sie, sie fragte ganz naiv, wie man es machen, was man dazu tun müsse; kurz, es war der finsterste Winkel in ihrem verfinsterten Geist, worin sich dies abspielte, da war kein Weiterdenken möglich, und wenn einer mit Worten daran rührte, konnte man ihm nur ins Gesicht schreien: schämst du dich nicht, daß du ein Mensch bist? schämst du dich nicht, daß du lebst? Und lachen. Und sich die Nägel abbeißen.

Unter dem vernichtenden Eindruck dieser Gemütsverfassung ihres Kindes schwand Marie hin wie eine Pflanze in einem Keller.


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