Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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12

An einem dieser Tage war ein Mann zu ihm gekommen, der bereits in der Stadtwohnung mehrmals dringend nach ihm gefragt, sodann einen seitenlangen, höchst verworrenen Brief geschrieben hatte, worin er bat, ihn in Lindow besuchen zu dürfen, die Unterredung sei seine letzte Hoffnung. Obschon Kerkhoven den Ton kannte, hunderte sprachen und schrieben so, hatte er nicht den Mut, den Mann abzuweisen, und so erschien er eines Vormittags zur bezeichneten Stunde.

Er hieß Karl Buschmann und war ein schmächtiger phtisisch aussehender Mensch von achtundzwanzig Jahren. Er war vor ein paar Wochen aus dem Zuchthaus entlassen worden, wo er sechs Jahre wegen Hochverrats verbüßt hatte. Er und sein jüngerer Bruder Erich hatten einer staatsfeindlichen Organisation angehört, beide waren am selben Tag verurteilt worden. Es schien, daß ein Falscheid dabei eine Rolle gespielt hatte. Der Bruder war nach anderthalb Jahren in der Strafanstalt gestorben. Karl hatte außer ihm keinen Menschen auf der Welt gehabt und auch keinen geliebt. Beide waren wie eine einzige Person gewesen, das Leben hatte sie zu einer Art von Identität verschweißt. Sie stammten aus guter Familie, der Vater war Hüttendirektor und im Krieg gefallen, sie hatten dieselben Schulen besucht, Gymnasium und Technikum; schon mit siebzehn Jahren waren sie Mitglieder einer radikalen politischen Gruppe geworden und hatten sich an den Spartakuskämpfen beteiligt. Sie hatten dieselben Anschauungen und Ziele, lasen dieselben Bücher, schliefen im selben Bett, nichts unterschied sie von einander als der Taufname. Als Karl den Tod des Bruders erfuhr, lag er vierzehn Tage lang starr auf seiner Pritsche, erbrach alle Nahrung und war vorübergehend blind. Tatsächlich, nicht bloß eingebildet. Nachher verlor er das Zeitgefühl, litt an Zählmanie und schweren Nervenkrisen. Einmal wurde er von einem Zellengenossen körperlich mißbraucht, und als er es anzeigte, wurde er in einer Nacht halbtot geprügelt. Aber alles das war nicht der Grund seines Kommens. Sondern was sich seit seiner Entlassung mit ihm ereignet hatte. Er könne es nicht anders bezeichnen denn als eine völlige Verkümmerung seiner Sinne und Organe. Die Speisen blieben ihm im Schlund stecken, Verdauung habe er fast keine, vor Wasser graue ihm genau wie vor Alkohol, Farben sehe er nicht, die Haut sei wie ertaubt, Geräusche könne er nicht differenzieren, die Stimmen der Menschen klängen ihm wie Trompetengeschmetter, Papierrascheln wie Klirren von Glas, eine ungeheure, gräßliche Angst vor der Welt habe sich seiner bemächtigt, und diese Angst weiche nur von ihm, wenn er ein Weib in den Armen halte; davon allerdings könne er nie genug bekommen, es sei das einzige Gefühl und die einzige Kraft, die ihm geblieben, es sei damit rein zum Tollwerden und quäle ihn wie ein ununterbrochener brennender Durst; die Frauenzimmer schienen es zu wittern, sie würfen sich alle nur so hin an ihn, aber lange könne er es nicht mehr machen, auch da drohe bereits das Grausen, und wenn man so ohne jede Beziehung zu sich selber lebe, ohne die Spur von höherem Trieb und Interesse, nur mit einer ungefähren Erinnerung an das was früher war, daß man einmal ein ganzer Mensch gewesen und jetzt nur ein halber, seit sie den Erich umgebracht... was solle man denn noch, man verstehe ja nichts mehr von dieser Schweinewelt, die so bedreckt sei wie ein Stiefel im Schlamm. Herrgott, Herrgott, könne ihm der Herr Professor nichts geben, was ihm helfen könne?

Kerkhoven schaute den Mann still prüfend an. Er hatte eigentlich immer darauf gewartet, daß ihm die Zeit eines Tages einen richtigen Golem vor Augen führen würde. Da war einer. Jedenfalls ein golemnaher Mensch, Erzeugnis gott- und schöpfungswidriger Mächte. Es mußte so kommen. Was sollte man da sagen und raten? Dieses Extremste mußte eintreten, um ihm die endliche Gewißheit seiner Impotenz zu geben; ihn erkennen zu lassen, daß er mit den bequem gewordenen Methoden in Gefahr war, zum Betrüger und Selbstbetrüger zu werden. Es war falsch, es vereitelte den Heilzweck in einem höheren Sinn als dem individuellen, wenn man einem Menschen sein Schicksal abnahm und auf sich nahm; damit stürzte man ihn nur in den Wahn als ob eine mechanische und äußerliche Hilfe möglich wäre, als ob er ohne sein Zutun und den härtesten, sittlich-physischen Kampf gerettet werden könne, ohne den Kampf jedes Organs, jedes Nervenstrangs, jeder Hirnzelle um eine wahrere Existenz. Hineinstellen mußte man ihn in sein Geschick, hineinpressen, ihm die Verantwortungen grausam eröffnen, den Willen schulen, zu Selbstentscheidungen über das Nein und Ja erziehen, zu denen die Todesneigung oder die Erneuerungsbereitschaft der eigenen Natur ihn nötigten.

Das war ein Umsturz des Systems. Aber vorläufig konnte man noch nichts damit anfangen. Es fehlten die Grundlagen und die Erfahrung, die ohne geduldige Arbeit und Selbstverwandlung nicht zu erreichen waren. Und ohne Entsagung nicht, auch hier. Als sein forschender Blick den glitzernden Augen des Mannes begegnete, sagte er sich: es liegt eine Pupillenstörung vor. Aber was es auch sein mochte, es kam nicht in Betracht. Er fragte dies und jenes, befühlte den Puls, maß den Blutdruck, prüfte die Reflexe, dann verschrieb er ein Mittel, eine Drüsenmischung, es hätte ebensogut ein anderes Mittel sein können, er sah nichts, er empfand nichts, er wußte nichts, er entließ den keineswegs Beruhigten mit üblichen Redensarten, und als er ihn zur Tür begleitete und seinen schwankenden Gang wahrnahm, dünkte ihn eine Sekunde lange als gehe sein Doppelgänger von ihm weg, ein gestorbener anderer Kerkhoven, der Golem. Er blieb den Tag über abgekehrt und schweigsam.


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