Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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5

Das ist die Gegenanklage. Sie enthält Bitterkeit genug, obgleich sie schonend verhüllt ist. Was nützt aber die Verhüllung, wenn jedes Wort bedeutet: du hast mich verraten...? Das trifft Marie schwer. Wenn es wahr wäre, könnte sie sich nie mehr entsühnen. Es ist nicht wahr. Bis zum letzten Augenblick hat sie sich mit aller Kraft gegen diese Leidenschaft gewehrt. »Verrat! Joseph! Wenn du wüßtest!« – »Wenn ich was wüßte?« – »Es hat nichts mit dir und mir zu tun. Hat nie mit meiner Liebe zu dir zu tun gehabt.« – »Das sagst du dir vor. Es erscheint dir jetzt so.« – »Nein. Du warst unser Schutzgeist, meiner und seiner, von Anfang an, auf Schritt und Tritt.« – »Ich weiß, ich weiß. Es hat ihm beliebt, eine Heiligenfigur aus mir zu machen, um sich aus seinen menschlichen Verpflichtungen herauszuschwindeln. So wie manche Einbrecher beten, bevor sie einbrechen. Aber du, Marie, du!«

Sie vermag zunächst nicht zu antworten. Es dünkt ihr zu töricht, was er sagt. Es ist so entgegen seinem Sinn und seiner Art, daß sie ihn erstaunt anschaut. Dann erinnert sie ihn schüchtern daran, wie sie auf ihn gewartet hat. Wie sie ihm Zeichen gegeben und er nichts gesehen hat. Wie sie ihn gerufen und er nicht gehört hat. Nicht nur nicht gehört, ihn hat er geschickt, eben diesen Etzel, statt selber zu kommen, »hast du es vergessen?«, hat er den Brief vergessen, worin sie ihm schrieb, sie wolle nicht mehr allein sein, sie wolle den Mann haben, den ihr das Schicksal zugedacht, nicht den Arzt, nicht sein Werk, nicht seinen Ruhm, nicht seine abgegeizten Viertelstunden, nicht seine umwölkte Stirn und seine anderswo weilenden Augen, ihn, ihn ganz, mit Haut und Haar und Herz und Atem. »Joseph, Joseph, hast dus denn vergessen, wars nicht deutlich genug, daß ich dir schrieb, es ist was in mir, das verzehrt mich, ich streck die Arme aus, zu fassen, zu halten, an mich zu drücken, ich verdurste, ich verbrenne...? Verzeih, wenn man es laut wiederholt, klingt es vielleicht geschraubt, aber so hab ichs gefühlt, und es war eine Krise. Und was hast du getan? Nicht vom Fleck hast du dich gerührt. Und als dann dein Beauftragter kam, dein Jünger, um mich... ja was sollte er... auf andere Gedanken sollte er mich wahrscheinlich bringen... ja, Mann, Mensch, hab ich da nicht glauben müssen, du wolltest Ruhe haben vor mir und meiner Liebe? hast du mich denn nicht mit aller Gewalt hineingestoßen? wars ein Verbrechen, zu denken, du wünschtest dir, was weder er noch ich zu denken gewagt hatten?«

Sie zittert am ganzen Körper. Ihre Beredsamkeit ist entschieden krankhaft. Sie kämpft um ihn und kämpft um sich. Das Gesicht zwischen den Händen, sieht sie ihn verstört an. Kerkhoven versucht, den harten Griff ihrer Hände zu lockern, die Finger von den Wangen abzulösen. »Ich dachte, du hättest die Kinder,« bringt er mühselig heraus; »du bist doch Mutter. Ich hielt dich für eine richtige Mutter...« Ihr Aufschluchzen erschreckt ihn. »Daß man Mutter ist, kann nicht für alles herhalten,« erwidert sie mit verzweifeltem Halblachen; »du weißt so gut wie ich, daß daraus der Zwinger wird, in den man eine Frau steckt, um sie unschädlich zu machen. Mutter, Hausfrau, Wirtschafterin, was du willst, aber man kann doch nicht als Witwe leben mit siebenunddreißig Jahren und einem Mann aus Fleisch und Blut. Das mußt du doch verstehen.«

Er versteht nur allzu gut, obschon er eine so hemmungslose Offenheit nie von ihr erwartet hat. Er ist wie vor den Kopf geschlagen. Was hätte es genützt, zu sagen: hundert Leidende haben mir den Weg zu dir verrammelt, die Nöte, die sie mir ins Ohr schrien, haben deine Stimme übertönt...? Und wären es tausend, wärens Millionen gewesen, da lag der eine Mensch zertrümmert vor ihm, der ihn vergeblich gerufen hatte und der auf der Waage der Geschicke auf einmal schwerer wog als eine Welt.


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