Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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Am andern Tag gegen Abend, ließ sich zu ihrem Befremden Doktor Hansen bei ihr melden. Sie wollte ihn nicht im Bett liegend empfangen und ließ sagen, sie danke ihm für den Besuch, es gehe ihr wesentlich besser. Er aber hatte sich draußen an den kleinen Johann herangemacht und es zu bewerkstelligen gewußt, daß dieser ihn ins Zimmer der Mutter zog. Verlegene Entschuldigungen stammelnd stand er an der Tür. »Geh, Johann, geh hinaus,« sagte Marie hart. Der Bub gehorchte betroffen, Doktor Hansen rührte sich nicht von der Stelle. Er sagte kaum hörbar: »Erlauben Sie mir, fünf Minuten bei Ihnen zu sein. Nur fünf Minuten. Ich war krank vor Sorge. Ich hielt es nicht aus. Ich mußte Sie sehen.« – »Was soll das alles, Herr Doktor?« fragte Marie unwillig und wies mit schwacher Bewegung auf einen Stuhl. »Ich verstehe Sie nicht. Ist es Ihr Ehrgeiz, aufdringlich zu sein?« – Hansen beachtete die karge Aufforderung zum Sitzen nicht. »Kann ich mir denken, daß Sie mich nicht verstehen,« stieß er mit gesenktem Kopf hervor; »versteh ich mich doch selber nicht. Ich bin verrückt. Ich bin verrückt. Ich... ich will ja nichts. Nur Sie anschauen, Ihre Stimme hören. Nichts weiter.« Marie betrachtete ihn kalt. Er hatte ein mageres, glattes Gesicht mit vorstehendem Kinn und einem Ausdruck des Verzehrtseins, Verbranntseins, der sie abstieß. Sie war ratlos und unglücklich, denn daraus konnte nur Verdruß entstehen. Last, Bedrängnis, Mühsal; nur Ungutes und Bitteres. Es widerstrebte ihrer redlichen Natur, Dinge zu sagen, die eine Frau in dieser Situation vorzubringen pflegt, mahnende, belehrende, vernünftig scheinende, selbstgerechte oder auch dem andern gerechte: nein, sie war ernstlich verwirrt, sie wußte nicht aus und ein und schließlich wandte sie den Blick von dem stumm mit ineinandergekrampften Händen dastehenden Mann ab und heftete ihn auf die Karte, auf der der Name Eugen Hansen stand; feindselige häßliche Zeichen, wie ihr dünkte.

Er machte Anstalten zu gehen. Mit einer mutlosen Geste strich er über seine Stirn und wandte sich zur Tür. Da hörte man von draußen eine zeternde Weiberstimme; ein fettes, gutturales, vulgäres Organ. Es war Frau Papier, die trotz der Vereinbarung ihren Sohn holen wollte. Alles war Marie plötzlich leid, die Zuversicht verließ sie, der Glaube an ihre Kraft. »Tun Sie mir den Gefallen, Doktor, und bringen Sie das Weib zur Ruhe,« sagte sie, »sie will ihr Kind wieder haben, der Bub möchte so gern dableiben, vorgestern hat sie versprochen, ihn mir noch zu lassen.« Hansen verbeugte sich, alsbald hörte sie ihn im Flur mit Malke Papier parlamentieren, auch Grete Kohl und die Bertram redeten auf sie ein, derweil ging leise die Tür zu den Kinderzimmern auf und durch den Spalt schob sich zaghaft der kleine Chaim. Er trippelte in die Mitte des Raums, weiter schien er sich nicht zu trauen und hob flehentlich die gefalteten Händchen gegen Marie. Sie winkte ihn zu sich her, legte den Arm um seine Schulter und flüsterte ihm zu: »Du bleibst schon da, Bübchen, fürcht dich nicht, du darfst dableiben.« Der Junge schaute sie mit glühender Dankbarkeit an und sagte stolz: »Ich will auch beten für dich. Ich kann ein Gebet.« Das bewegte sie, sie küßte ihn auf die Stirn und da es draußen wieder ruhig geworden war, gebot sie ihm freundlich, zu den anderen Kindern zurückzukehren. Als er das Zimmer in eiligem Gehorsam verlassen hatte, verspürte sie große Schwäche und brach in Tränen aus.


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