Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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Der Schauplatz war meistens das große Studio Kerkhovens; Alexander Herzog nannte es das Refektorium. In der ersten Zeit fanden sie sich schon nach dem Abendessen dort zusammen, da Alexander, dessen Physis noch in der alten Stundeneinteilung von Ebenweiler verharrte, um zehn Uhr so müde wurde, daß ihm die Augen zufielen. Nach der schweren Erkrankung, die ihn drei Wochen ans Bett fesselte, einer Entzündung sämtlicher Gesichtshöhlen, der Nase, der Kiefern, der Stirn, änderte sich dies plötzlich, er war viel frischer und ausdauernder; »noch eine solche Krankheit, und wir sind aus dem Wasser,« scherzte Kerkhoven. Das Beisammensein dauerte dann oft bis Mitternacht. Manchmal fanden sich auch Marie und Bettina ein, die es liebten, den Nachmittag über in der Gegend herumzustreifen oder in einem Boot auf dem See zu fahren; es wurde Tee serviert, und Obst; als die Abende kühl wurden, machte Kerkhoven Feuer in dem mächtigen Steinkamin, und die hochflackernden Flammen ließen den weitläufigen Raum mit seinem finstern Dachgebälk noch pittoresker erscheinen. Da die Frauen sahen, daß sie nicht nur geduldet wurden, sondern daß ihre Anwesenheit erwünscht, ja mehr und mehr notwendig war, verloren sie ihre Zurückhaltung, kamen fast jeden Abend von selbst hinauf und wurden zu Mithandelnden in dem vielaktigen Drama. Und eine fünfte Person gesellte sich bisweilen hinzu, eine, die stumm war und regungslos in einem entfernten Winkel saß oder kauerte: Aleid Bergmann. Gewöhnlich merkte man gar nicht, daß sie da war; ungesehen kam sie herein, und wenn die andern sich zum Aufbruch anschickten, schlich sie unhörbar hinaus; weiß Gott, wie sie das erste Mal den Mut gefunden hatte, die »geheiligte Schwelle« zu überschreiten, wie sie sich in ihrer galligen Manier gelegentlich gegen Alexander Herzog ausdrückte. Ihre Mutter hatte ihr wohl ein Zeichen gegeben oder sie eines Abends eingeschmuggelt. Marie hatte nämlich beobachtet, daß sie, wann immer es anging, nach Alexander Herzogs Nähe strebte. Es war etwas jungenhaft Neugieriges in der Art, wie sie mit den Augen an ihm hing und jedes seiner Worte verschlang. Als sie eines Tages am Seeufer im Gras lag und er zu ihr trat und sie anredete, war sie ehrlich verlegen.

Aber nicht allein im Refektorium spielten sich die entscheidenden Vorgänge ab; auch im Pavillon, auch in Maries Arbeitszimmer; und nicht bloß abends und nachts, auch zu jeder Zeit des Tages, bei zufälligen Begegnungen, in ein paar Fragen und ein paar Antworten manchmal nur, doch immer in dem Gewebe von Fäden, die sich unaufhörlich und mit wachsender Bindungskraft von einem zum andern spannen und in die sie schließlich eingehüllt waren wie in ein Geisterkleid.


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