Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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Wenn ein Mensch fast ausschließlich im Bezirk der Kunst und der Geistigkeit gelebt hat, stellt sich eine Art Anämie bei ihm ein, Schwächung seiner elementaren Kräfte. Schönheit und Hingabe an das Schöne können wie ein Rauschgift wirken, wenn ein persönliches Privileg daraus abgeleitet wird, das Recht auf ein Dasein außerhalb einer Gemeinschaft, die unter ganz andern Gesetzen steht, unerbittlichen, grausamen. Es ist wie wenn jemand in einer Stadt, über die das Standrecht verhängt ist, einen bemalten Papierdrachen steigen läßt. Zu dieser bestürzenden Erkenntnis kam Bettina bereits nach flüchtigem Einblick in das Leben Kerkhovens, eigentlich schon bei der ersten Begegnung mit ihm. Als sie sich dann angelegentlich mit ihm beschäftigte und ihm mit wachsendem Staunen zuschaute, mit ihren scharfen Augen, denen nichts entging, keine innere und keine äußere Bewegung, da bildete sich in ihr eine vollkommen veränderte Vorstellung von menschlicher Haltung, und die Welt, von der sie bisher nur die Peripherie berührt hatte, war nicht mehr ein entfernt Gewußtes, sondern in die Nerven hineingeglühte Wirklichkeit. Der Mann im Mittelpunkt, so faßte sie ihre Gedanken über ihn zusammen. So entstand der Wunsch, der immer heftiger wurde, sich diesem Mittelpunkt zu nähern als sei nur dort das Gleichgewicht zu finden, der Blick über alles Geschehen, alles Leiden, alle Gefahr. Das war es ja hauptsächlich, daß man sich so unerhört gefährdet vorkam, wehrlos in die Feuerlinie kommandiert. An seiner Seite aber war man bis zu einem gewissen Grad geschützt, denn er kannte den Schlachtplan und die Deckungen und hatte so viele entschlossene Streiter um sich, daß man allein durch ihre Masse geborgen war. Wie er es machte, daß er trotzdem jedem Einzelnen Gehör schenken, mit Rat und Tat behilflich sein, dem ein Schlupfloch zuweisen, dem andern einen Weg aus der Bedrängnis zeigen, den dritten in Pflege nehmen, den vierten gleichsam mit Waffen versehen, den fünften gar auf dem Rücken aus dem Getümmel schleppen konnte, unausgesetzt, unermüdlich, unabgeschreckt, unverdüstert und alles wie wenns nichts wäre, nicht des Aufhebens wert, war nicht zu fassen; der Verstand blieb einem stehen.

Sie sagte: »Schonen Sie sich doch, Sie treiben Raubbau mit sich.« Er erwiderte: »Wenn ich anfange, mich zu schonen, ist kein Ende mehr mit der Schonungslosigkeit gegen andere. Was heißt überhaupt sich schonen? Ist man ein auf Zinsen angelegtes Kapital? Das sind Anschauungen von anno Toback. Von Opfer zu reden ist dumme Prahlerei, aber die Idee, daß man die paar Funken, die das Schicksal aus einem schlägt, in der Sparbüchse sammeln soll, ist lachhaft.« Dabei war in seinem Gesicht wieder einmal jener erloschene und gewaltsam beherrschte Ausdruck, der in Marie eine so ahnungsvolle Bangigkeit erregt hatte und auch Bettina erschreckte.

Sich ihm ganz offen zu geben, wagte sie nur selten. Mußte ihm doch alles zu gering erscheinen, was sie beschwerte. Er war zu beansprucht, zu verstrickt im Unabsehbaren. Sie fürchtete seine Kritik, ein kleines abschätziges Zucken um den Mund, ein kleines mitleidiges Lächeln. In praktischen Angelegenheiten war er ein verläßlicher Berater. Da Alexander Herzogs Einnahmen infolge der politischen und wirtschaftlichen Umstände stark zusammengeschrumpft waren, vertraute sie ihm auch ihre finanziellen Sorgen an. Er wußte immer einen Ausweg. Als es am Monatsende mit der Zahlung verschiedener Schulden haperte, machte er einen Mann ausfindig, der Alexander eine größere Summe vorstreckte, zehntausend Franken. Doch sprach sie über ihre eigenen Mißlichkeiten äußerst ungern mit ihm. Wenn sie mutlos den Kopf hängen ließ, zankte er mit ihr. Oft gerieten sie einander in die Haare. Sie wurde fuchsteufelswild, wenn er sie spöttisch als Dame behandelte und ihre Anfälle von Verzagtheit als Kapricen einer verwöhnten »Lady« abtat. Aber er meinte es nicht ernst. Er liebte es, mit ihr zu streiten. Er freute sich an ihrem schlagfertigen Witz. Wenn er in einem Wortgeplänkel den kürzeren gezogen hatte, machte er sich über seine Niederlage lustig und drohte etwa: »Warten Sie, ich werde mich mit Alexander verbünden, zu zweit sind wir der Pallas Athene vielleicht doch gewachsen.« – Und sie antwortete lachend: »Vorsicht! die hat ihren Namen davon, daß sie einem Giganten die Haut abzog. Merken Sie sichs.«

Was sie zu Alexander gesagt: »Du hast mir das Bild der Welt gegeben, er gibt mir das Begreifen,« war im umfassendsten Sinn wahr, nicht bloß die leichtfertige Äußerung einer Bildungssüchtigen. Oberflächlich war sie in keinem Bezug und bei keinem Tun. Entweder verzichtete sie oder sie engagierte sich mit ihrer ganzen Person. Umsoweniger konnte sie sich hier mit dem Ungefähr begnügen, als es um das Sein an sich ging, um die einzige Möglichkeit, sich im Sturm der Seelen und der Geister zu behaupten. Sie erkannte ihre schwachen Kräfte, den Mangel an Hilfsmitteln, ihre laienhafte Unwissenheit, die Fremdartigkeit eines Gebietes, auf dem jeder Quadratzoll Boden für sie das Entlegene schlechthin war, doch sie wollte lernen, wollte unbedingt lernen, nur um zu erfahren, was es mit dem Mann auf sich hatte, der ihr eine so leidenschaftliche Hochachtung einflößte, daß sie sich schon in diesem Gefühl behütet schien wie im Innern eines Berges. Es kann mir nichts geschehen, sagte sie sich immer wieder, ein österreichisches Wort, das, vom Theater her, sie durch ihre Jugend begleitet hatte; unter seinem Schutz kann mir nichts geschehen. Er sprach mit ihr über seine Wissenschaft, über seine Patienten; er las ihr Teile seines Werkes über den menschlichen Wahn vor; das alles bedeutete Ungeheures für sie und verlieh ihrem Leben eine neue Tiefe. Aber es führte noch nicht zu der Umwälzung, die erst eintrat, als sie sich überzeugt hatte, daß seine Forschungen, seine theoretischen Arbeiten, seine ärztliche Tätigkeit, sein Helferdienst, dieses alle Grenzen überströmende Wirken für Freunde und Fremde, wobei Unglück gleichsinnig war mit Krankheit, und Verbrechen und Laster mit Unglück: daß dies alles nur Vorstufe war zu dem Aufstieg in eine weit darüber liegende Region, mit klareren Worten, daß dieser Gelehrte und Mann der praktischen Disziplinen bewußt und vorsätzlich den Weg ins Ewige suchte, die göttliche Bindung...

Das war das Erlebnis, das Wunder. Damit statuierte er ein Exempel.


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