Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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96

Marie hatte mit Robert und Johann einen Tagesausflug gegen Frauenfeld verabredet. Die Knaben freuten sich unbändig darauf. Da ihr der kleine Konrad Imst in seiner Verlassenheit leid tat, nahm sie ihn mit. Sie wußte nicht, daß sich zwischen ihm und dem um zwei Jahre älteren Johann bereits ein offener Haß entwickelt hatte, trotzdem sie einander nur wenige Tage kannten. Es war eine Blutsfeindschaft, aus der Natur heraus wie zwischen zwei Hunden, die einander atavistisch und durch den Geruch reizen. Schon in den ersten Stunden mußte Marie zu verschiedenen Malen Frieden stiften; nach der Mittagsrast kam es zu einer erbitterten Rauferei, bei der Johann unterlag, was ihn gewaltig wurmte. Er war zu stolz, um sich bei seiner Mutter zu beklagen, aber Tatsache war, daß sich der jüngere gewisser hinterlistiger Tricks bedient hatte, die unter Knaben verpönt sind. Marie hatte es jedoch heimlich beobachtet. Kurz darauf kam es abermals zu einem Gezanke, das Konrad provoziert hatte, und als er im Verlauf des Wortwechsels Johann der Feigheit zieh, wurde dieser ganz blaß, machte plötzlich kehrt und rannte spornstreichs in den Wald hinein. Eine halbe Stunde lang suchte Marie nach ihm, endlich fand sie ihn in einem Busch, worin er sich verkrochen hatte; nur mit größter Mühe konnte sie ihn dazu bringen, das Versteck zu verlassen; er gebärdete sich wie ein Berserker. Konrad Imst stand hämisch triumphierend dabei. Beim Weitermarschieren entdeckte der ein Stück hinterhertrippelnde Robert eine junge Kohlmeise, die im Gras lag und ängstlich mit den Flügeln flatterte; sie war offenbar bei einem verfrühten Flugversuch zu Schaden gekommen. Konrad bemächtigte sich sofort des Vogels, bettete ihn in sein Sacktuch, streichelte ihn unablässig, fauchte den sechsjährigen Robert wütend an, als der behauptete, das Tier gehöre ihm, er habe es zuerst gesehen, und benahm sich so übertrieben zärtlich gegen das flügellahme Geschöpf und so boshaft gegen seine menschliche Umgebung, daß Marie das Gefühl hatte, der Bub sei nicht ganz just, es müsse eine Schraube bei ihm los sein. Zwei Stunden später ließen sie sich am Ufer der Thur zum Ausruhen nieder; Konrad legte das bebende Tierchen ins Moos und entfernte sich, um Würmer und Käfer zu suchen. Johann war die ganze Zeit über auffallend gedrückt und still gewesen; kaum war Konrad verschwunden, so stürzte er mit funkelnden Augen auf das Tierchen zu und zertrat ihm mit dem Stiefelabsatz den Kopf...

Alles dies erzählte Marie am Abend Kerkhoven. Sie befanden sich in dem riesigen Arbeitszimmer unterm Dach, Marie saß schmal und unbequem auf einer Holzbank an der Kaminsäule, den Blick ins schwarze Gebälk gerichtet. Kerkhoven lag in einem der breiten Ledersessel. »Du kannst dir denken, wie mir zumute war,« endete sie ihren Bericht; »das Herz ist mir stillgestanden. Im ersten Moment hätt ich den Buben packen und ins Wasser werfen mögen. Solche Tücke! Solche Roheit! was nützt da die Erziehung? was sollen Güte, Verständnis, Vorbild? Auf einmal hat man eine blutdürstige kleine Bestie vor sich.« – Kerkhoven sagte kopfschüttelnd: »Stimmt alles nicht. Ein Kind ist kein Mensch. Nicht in unserm Sinn. Ich habe als Kind gelogen, betrogen und gestohlen. Alle anständigen Leute haben mir das Zuchthaus prophezeit.« – »Meinetwegen lügen und stehlen,« erwiderte Marie heftig, »hundertmal besser als das. Diese Infamie. Kalte gemeine Rache an einem Tier.« – »Hast du ihn zur Rede gestellt?« – »Nein. Ich habe kein Wort mehr mit ihm gesprochen. Ich habe auch beim Schlafengehen nicht mit ihm gebetet.« – »Das hat ihn natürlich geschmerzt?« – »Ich hoffe. Es kann ihn gar nicht tief genug schmerzen.« – »Und der andere, der kleine Imst?« – »Der? ja, das war merkwürdig. Stell dir vor: er kommt zurück, die Hand voller Regenwürmer, wo die Buben immer so viel Würmer herkriegen, ist mir ein Rätsel, und wie er den Vogel tot liegen sieht, augenscheinlich umgebracht, dem Johann sah man ja die Missetat an der Nasenspitze an, da lächelt er!« – »Lächelt? was du sagst!« – »Ja. Ein widerwärtiges Lächeln. Wie wenn einer durchblicken läßt: ihr könnt mir nichts mehr weißmachen mit eurer Feinheit und eurer Tugend. Es gibt eben schlechtgeborene Menschen, Joseph, gemeingeborene, bösegeborene.« – »Ich kann dir darin weder beipflichten noch kann ichs bestreiten, Liebste. Jedenfalls hast du keinen erfreulichen Tag verlebt.« – »Nein. Aber der Versager ist man zuletzt doch selber. All der Wahn von Einfluß und Bluterbe und angestammter Art! Was soll ich denn nur tun? Bin ich eine so unzulängliche Mutter? Eine Person, die sich Gott weiß welchen überspannten Illusionen hingibt, sich aufspielt und überschätzt? Rate mir doch, Joseph, hilf mir doch!«

Kerkhoven schwieg. O dieser Ruf, dieser bange Menschenruf, wie gut kannte er ihn, wie oft hatte er ihn gehört! Mit großen forschenden Augen schaute er Marie an als wolle er ihr Inner-Innerstes prüfen. Da hob Marie mit einem Ruck den Kopf und blickte gegen die Tür, die sacht geöffnet worden war. Auf der Schwelle stand im Schlafanzug der kleine Johann. Er hatte ein verweintes Gesicht. Als er der Mutter ansichtig wurde, lief er ohne sich zu besinnen auf sie zu und barg sich stumm an ihrer Brust. Marie drückte den warmen, zitternden Körper fest an sich und wiegte ihn mit schmeichelnden, beschwichtigenden Gurrlauten ein wenig hin und her. Dann stand sie auf, um ihn hinauszutragen, in sein Bett hinunterzutragen. Aber er war ihr zu schwer, und Kerkhoven nahm ihn ihr ab. Es war ein ziemlich weiter Weg. Als er den beschämten Ausbrecher wieder auf seinem Lager verstaut hatte, drängte ihn Marie beiseite, setzte sich an den Bettrand, nahm die gefalteten Hände des Knaben zwischen ihre beiden und sagte ihm das Vaterunser vor. Das Kind sprach es mit süßer, dankbarer Stimme nach. Kerkhoven stand still dabei; es war als dürfe er keine Silbe, keinen Laut verlieren. Eine sonderbare Unruhe glänzte in seinen Augen.


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