Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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Wie es zugegangen war, daran konnte sich Alexander bei seiner begreiflichen Verstörung später kaum mehr erinnern. In Rheinfelden mußte er umsteigen. Ein paar Stationen vorher, in Stein, er saß in einem Durchgangswagen dritter Klasse, stieg ein altes Ehepaar ein, beide waren blind, und ein weißer Pudel, den sie an der Leine hielten, war ihr Führer. Schon an der nächsten Haltestelle verließen sie den Zug wieder. Alexander war ihnen beim Aussteigen behilflich, aber die Art, wie der Hund zu erkennen gab, daß er der allein berufene Helfer sei und seinen Beistand gleichsam höflich ablehnte, die menschenhafte Klugheit, die aus seinen Augen strahlte, das machte einen so faszinierenden Eindruck auf Alexander, daß er das Bild nicht mehr los wurde und es in seiner Vorstellung einen legendären Glanz annahm. Er malte sich das Leben der zwei Menschen aus und begleitete sie im Geist in ihr Heim, das ihnen unsichtbar war und in dem sie nur mit den Augen des Hundes existierten. In diese Gedanken versponnen, verließ er in Rheinfelden den Wagen, überschritt das Geleise und wartete auf den Zug, der nach Basel fuhr. Der andere Zug war indes gegen Buchs weitergefahren. Plötzlich bemerkte er zu seinem Schrecken, daß er das Paket hatte liegen lassen. Gepreßten Herzens, seiner Sinne kaum mächtig, stürzte er sofort zum Stationsvorstand. Dieser beruhigte ihn gutmütig; hierzulande käme Verlorenes selten abhanden. Man telephonierte an die nächste Station. Dort wurde gesucht. Der Bescheid war niederschmetternd: man hatte das Paket nicht gefunden. Alexander erkundigte sich verzweifelt, wie weit der Zug fahre. In Buchs werde er ausrangiert, wurde geantwortet. Indessen hatten sich Leute angesammelt, die die Tragweite des Verlusts instinktiv zu begreifen schienen, das Gebaren Alexanders war ja beredt genug, und dem Fassungslosen allerlei Ratschläge erteilten. Da er stumm und vernichtet dastand, nahm sich eine Frau seiner an und telephonierte an das polizeiliche Fundbüro. Er überlegte wie im Fieber, was er tun solle. Er entschloß sich, ein Auto zu mieten und dem Zug nachzufahren. Zwei Minuten darauf saß er in einem Taxi. Er versprach dem Chauffeur zwanzig Franken Trinkgeld für möglichst schnelle Fahrt. Die Maschine tobte über die gewundenen Straßen. Er saß mit geballten Fäusten neben dem Lenker und verwünschte die Langsamkeit des Motors. Er dachte nicht, er fühlte nicht, die Zeit war Qual. Um halb fünf kamen sie in Buchs an. Der Zug stand auf einem toten Geleise. Er erkannte den Waggon, in dem er gesessen war und ließ ihn aufsperren. Er erkannte auch das Abteil wieder: nichts. Er lief durch alle andern Abteile: nichts. Er fragte auf der Station: nichts. Er gab sein Nationale ab und ließ ein Protokoll aufnehmen mit der Verheißung eines Finderlohns von dreihundert Franken. Er telephonierte nach Rheinfelden zurück: nichts. Er rief sämtliche Zwischenstationen an: nichts. Er warf sich wieder ins Auto: nach Rheinfelden. Dort angekommen, es war schon am späten Abend, ließ er sich zu einer Druckerei fahren, der Leiter mußte erst aus dem Wirtshaus geholt werden, und setzte den Text eines Plakats auf, das unverzüglich gedruckt und am Morgen angeschlagen werden sollte. Es kostete eine Unsumme, aber Geld war nicht von Belang. Er ging noch zur Polizei und abermals auf die Eisenbahnstation: vergeblich. Um Mitternacht nahm er ein Zimmer in einem Gasthof, warf sich todmüde ins Bett, konnte aber kein Auge schließen. Er war vollkommen gebrochen.


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