Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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Während einer Fahrt nach Lausanne, wo er eine Zusammenkunft mit einem amerikanischen Arzt haben sollte (es handelte sich um die Gründung einer internationalen Notgemeinschaft), machte sich Kerkhoven plötzlich schwere Sorgen um Alexander Herzog. Er hatte ihn vor seiner Abreise flüchtig gesehen und den Eindruck ungewöhnlicher Verfallenheit mitgenommen. Es dünkte ihn, daß er sich möglicherweise über den Allgemeinzustand getäuscht und gewissen Anzeichen zu wenig Beachtung geschenkt hatte. Manche unter ihnen konnten sozusagen klinisch eingereiht werden und ergaben ein markantes Bild von Ratlosigkeit, Gedächtnisverwirrung und Bewußtseinsunterbruch. Er sah den Mann deutlich vor sich; er summierte die verdächtigen Merkmale; das fortwährende Aufstehen vom Stuhl; zur Tür gehen und nachsehen, ob sie geschlossen war; anfassen von Gegenständen auf dem Schreibtisch und sie wieder weglegen; nach einem Buch greifen, nach einem andern Buch; in der Nacht das Bett verlassen und sich vergewissern, ob nicht irgendwo eine glimmende Zigarette liegen geblieben war; stundenlanges Suchen nach einem Zettel mit einer völlig belanglosen Notiz, der sich dann wohlverwahrt in einer Lade fand; die tägliche Angst vor der Briefpost; und mehr dergleichen. Dazu der trübe Blick, die kindische Widersetzlichkeit gegen jede Verordnung, die Müdigkeit, die Freudlosigkeit, das apathische Insichversinken...

Vor einigen Tagen war Kerkhoven in sein Zimmer gekommen und hatte gefragt, ob er störe. Keineswegs, hatte Herzog erwidert, Kerkhoven sehe ja, wie faul er sei, gedankenfaul, gemütsfaul, augenfaul, ohrenfaul. Kerkhoven bemerkte, wenn man sich einem solchen Zustand nur richtig hingebe, sei nichts Bedenkliches daran, eher etwas Heilsames. Das könne er nicht, entgegnete Alexander mit seinem scheu abgleitenden Blick, er könne sich keinem Zustand hingeben, sein Inneres sei zu einem Stück Kreide geworden, nicht mehr auflöslich, nicht mehr brennbar. Und er bedeckte die Augen mit der Hand...

Ich habe zu lang gewartet, überlegte Kerkhoven; ich habe fälschlich angenommen, daß das Bekenntnis an sich schon Erlösung und Absolution bedeute; ein ungeheurer Irrtum, wie sich zeigt; ich wollte ihm Spielraum lassen, damit das Alte in ihm absterben, das Neue sich konsolidieren konnte; es war offensichtlich ein Fehler; ich war leichtsinnig; ich habe vergessen, daß seine Existenz eine Art Strandgut ist und statt zu bergen, was noch zu bergen war und keinen Augenblick zu säumen, habe ich mich auf ein psychologisches Kunststück verlegt wie zu den Zeiten, da ich noch an solche Experimente glaubte. Unverzeihlich.

Bei diesem Gedanken wurde ihm glühendheiß, teils aus Beschämung, teils aus Angst vor den Folgen seiner Unterlassung. Es wurde ihm immer klarer: er hatte trotz aller revolutionierenden Erkenntnis, trotz der geschehenen Wandlung, wieder einmal die Sünde begangen, das nahe, blutende, schmerzvolle Leben einer Idee zu opfern. Er hatte gehofft, eine einfache Beschwörung würde genügen, und Ganna und der Gannawahn würden sich aus der Seele des davon Besessenen verflüchtigen. Man verschreibt ein Rezept nach dem derzeitigen Stande der Wissenschaft, etwas wie ein seelisches Purgativ, und das Übel verschwindet auf Nimmerwiedersehen. Der große Kerkhoven spricht sein Apage Satanas und siehe, der Satan erschrickt gewaltig und entweicht. Welche Anmaßung! Welches eitle und schwächliche Vertrauen auf Theorien in einem Fall, der wie keiner sonst den Einsatz des ganzen Menschen, des ganzen Daseins forderte!

Er fühlte sich an jenem Tag besonders elend und konnte sich vor Erschöpfung kaum schleppen. Während er mit dem amerikanischen Gelehrten sprach, dachte er: wenn der Mann eine Ahnung hätte, was für Kräfte ich aufbieten muß, nur um ihm Rede zu stehen, würde er mir bestimmt nicht so liebenswürdig zulächeln, er würde sich vielleicht erinnern, daß er selber Arzt ist und mich schleunigst ins Bett schicken. Aber das waren seine kleinen Triumphe, und wenn einer dann sagte: »Sie sehen ja blühend aus,« und seine Herkulesnatur bewunderte, konnte er erheitert vor sich hin kichern und die Anerkennung wie einen ihm zukommenden Tribut einkassieren. Aber gerade diese Schwäche, die ihn bei der Heimfahrt fast einen Kollaps befürchten ließ, sodaß er hastig ein paar Tropfen Valerian auf die Zunge träufelte, machte ihn wahrscheinlich für eine Vision empfänglich, auf die er in keiner Weise vorbereitet war, denn es war das erste Mal in seinem Leben, daß ihm dergleichen zustieß.

Er saß allein in einem Abteil dritter Klasse, in eine Ecke gedrückt, den Hinterkopf gegen die Holzwand gelehnt, die Augen halb geschlossen, und erwog, ob er nicht die elektrische Birne, deren stechendes Licht ihm weh tat, mit seinem Taschentuch umwickeln solle. Da stieg, ohne daß der Zug hielt, eine Frau ein, die sich ihm schräg gegenübersetzte, atemlos, wie jemand, der mit Müh und Not zurechtgekommen ist. Sie hatte kein Reisegepäck, breitete aber eine Menge Gegenstände auf der Bank aus, eine schäbige Wolldecke, fünf oder sechs Bücher, einen unappetitlich aussehenden Sack mit Proviant und eine riesige Aktentasche, aus der sonderbarerweise auch der Stiel einer Haarbürste hervorschaute. Ihren Kopf krönte eine abenteuerliche Helmfrisur (das lächerlich kleine Topfhütchen war im Proviantsack verstaut), die hektische Röte des Gesichts war durch grelle Schminke noch verstärkt, die großen blauen Augen hatten einen fahrigen, grundlos bestürzten Ausdruck; etwas von inhaltloser Schwärmerei lag in ihnen oder von geschäftiger Kümmernis; die auffallend kleinen Hände staken in zerrissenen Strickhandschuhen; über den Schultern hing ihr eine abgetragene, altmodische Mantille, wie denn der ganze Aufzug etwas Theatralisches, Unordentliches und Zusammengestoppeltes hatte.

Er wußte sofort, daß er Ganna Herzog vor sich hatte. Er kam aber erst nach und nach darauf, daß es bloß eine Erscheinung war, obgleich mit allen Zügen der Wirklichkeit. Daß er einer Sinnestäuschung unterlag, stellte er erst im Lauf verstandesmäßiger Überlegung fest, sozusagen neben und hinter dem erschreckend wahren Bild, zum Beispiel dadurch, daß er sich an ihre materielle Notlage erinnerte, von der ihm Bettina berichtet hatte, und daß sie sicherlich nicht die Mittel zu einer Reise in die Schweiz haben konnte. Desungeachtet erfüllte ihn eine seltsame Spannung und Erwartung, und er verfolgte jede Bewegung der Frau, ihre flatternden Gesten und aufgeregten Blicke. Was wird sie tun? fragte er sich als könne jeden Moment etwas Verrücktes und Unheimliches geschehen; was mögen es für Bücher sein, die sie vor sich aufgestapelt hat? Von dem, das zu oberst lag, konnte er sogar den Titel lesen: Anweisung zur Handlesekunst. Als er den Blick zu dem Gesicht der Frau erhob, sah er ein eigentümlich verblasenes Lächeln auf ihren Lippen, wie bei einem Kind, das schmollt, ja, dieses Lächeln gemahnte auf irgendeine Art an das eines wahnsinnigen Kindes; von diesem Augenblick an wich die albdruckhafte Beklemmung von Kerkhoven, er atmete auf wie ein Mensch, der sich von einer leeren Drohung hat einschüchtern lassen, und das hatte nichts mit der täuschenden Körperlichkeit der Erscheinung und ihrem alsbaldigen Verschwinden zu tun, einem Verdunsten beinahe, es war essentieller im Sinne von Bild und Wesen der wirklichen Ganna Herzog.


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