Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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28

An einem der letzten Novembertage des Jahres 29, Marie hatte eine Woche zuvor ihre Dreizimmerwohnung in der Niebuhrstraße bezogen, hatte der kleine Robert heftiges Fieber. Sie telefonierte der Ärztin Ellen Ritter, einer alten Freundin des Hauses. Sie war Vorsteherin der Aufnahmestelle im Kinderspital am Prenzlauer Berg. Sonst nicht eben mitteilsam, war sie an diesem Tag infolge eines traurigen Vorkommnisses ziemlich erregt und konnte sich nicht enthalten, mit Marie darüber zu sprechen. Ein achtjähriges Mädchen, das alle Ärzte und Schwestern gern gehabt hatten, war mit einem zu spät erkannten Gehirntumor eingeliefert worden und während der Operation gestorben. Die Schilderung der häuslichen Verhältnisse, in denen das Kind gelebt hatte, wirkte auf Marie alarmierend. »Ist denn das menschenmöglich!« rief sie aus und drückte schaudernd die Schultern zusammen. »Gibt es denn das?« Ellen Ritter verzog die Stirn als wollte sie sagen: da könnte ich noch mit ganz anderem aufwarten. »Wenn Sie sich mal den Luxus gestatten würden, für eine Stunde auf meine Station zu kommen, würden Sie allerlei erleben, Verehrteste,« antwortete sie in ihrer schnauzischen Manier. – »Ja? Darf ich? ich komme gern,« sagte Marie rasch, aber die andere nahm es nicht ernst und wechselte das Thema.

Am zweitfolgenden Tag, um zehn Uhr morgens, erschien Marie im Aufnahmeraum und saß zweieinhalb Stunden wie versteint auf dem Platz, den ihr Ellen Ritter angewiesen hatte. Danach faßte sie ihren Entschluß.

Von Stunde an ertrug sie es nicht mehr, am Rande des Entsetzens zu leben und nur vom Hörensagen davon zu wissen. Auswendig, so wie man weiß: in China verhungern jährlich zwei Millionen Menschen. Schön, China ist weit; zwei Millionen, wer stellt sich das vor. Könnte mans, man würde wahrscheinlich sofort tot umfallen. Aber hier! rings herum! im Bereich ihrer Hände und ihrer Augen! Wo hatte sie sich denn eingemauert?

Die Frage war: was beginnen? wie es beginnen? wahllos etwas so Ungeheures auf sich nehmen, wie es Menschendienst ist, wirklicher, nicht angeblicher, das lag ihr nicht, das vermochte sie nicht. Beamtung, Vorschrift, Auftrag, das waren Umwege, die den Schwung in ihr gelähmt hätten. Sie hätte das Gefühl gehabt als solle sie erst beim Magistrat um die Bewilligung zum Feuerlöschen nachsuchen, während die Stadt in Flammen stand.

Doch das Massenhafte erschreckte sie. Es stellte ihr die Aussichtslosigkeit des Einzeltuns zu kraß vor Augen. »Wie soll mans machen, wenn man die Sklavin seiner Sympathien ist,« klagte sie gegen Ellen Ritter, »muß man das persönliche Gefühl unter allen Umständen ausschalten?« – »Bis zu einem gewissen Grad, ja. Ich möchte sogar sagen, ganz und gar.« – »Aber ich bin eine hoffnungslose Individualistin, Ellen. Alle sozialen Grundsätze können mir gestohlen werden, wenn sichs um den Menschen handelt, der vor mir steht. Ich muß lieben können, wenn ich helfen soll. Ich weiß, Sie finden das altmodisch und schädlich, aber was soll man dagegen tun?« – »Sie müssen vom hohen Roß herunter! mit der Liebe werden Sie nicht weit kommen,« sagte die Ärztin kalt; »keinem von uns wird eine Extrawurst gebraten. Was wollen Sie eigentlich?« – »Ich meine, in solchen Dingen kommt es auf das Beispiel an. Wenn ich zehn oder fünf oder drei dieser Geschöpfe wirklich rette, habe ich mehr erreicht als wenn ich mich mit hunderten plage, denen ich schließlich doch nicht helfen kann, weil ja die Einrichtungen versagen. Dächte jeder so, dann wäre das ganze Elend nicht. Man muß die Menschen zwingen, so zu denken.« – »Optimistin,« erwiderte Ellen Ritter achselzuckend, »die Menschen kann man nur durch das Schießgewehr zwingen, nicht durch das Beispiel. Schaun Sie mal im Kalender nach, ich fürchte, Sie leben noch im neunzehnten Jahrhundert, meine Gute.«

Marie hatte aber bereits ihren Plan.


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