Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

101

Das Herzogsche Manuskript war die Ursache, daß Kerkhoven vierundzwanzig Stunden länger in Zürich blieb als er vorgesehen hatte. Aleid schlief bis in den späten Nachmittag. Er hatte die Hauswirtin gebeten, sie nicht zu stören und das Zimmer nicht zu betreten. Er selbst verließ die Wohnung nur, um in einer benachbarten Gastwirtschaft zu Mittag zu essen. Besucher wurden abgewiesen. Er hatte noch in der Nacht zu lesen begonnen; um acht Uhr morgens setzte er die Lektüre fort und las bis vier Uhr nachmittags.

Schon als er das erste Blatt aufgeschlagen, hatte er gestutzt. Die Wahnwelt... (Später bemerkte er darüber zu Alexander Herzog: »Merkwürdig, daß wir uns so oft an einem Kreuzweg treffen.« – »Wie das?« fragte Herzog. – »Nun, zuerst das mit dem Gang in die Wüste, und jetzt: die Wahnwelt. In die Wahnwelt rüst ich seit Jahr und Tag meine Expeditionen aus. Ich bin so eine Art Sven Hedin der Wahnwelt, wenn Sie den Vergleich nicht anmaßend finden.«)

Was er seinerzeit von Alexander Herzog verlangt hatte, daß er ihm die lebendige Kreatur zeige, dieses eine, beispiellose Menschenwesen Ganna, das war geschehen. In einem Ausmaß, mit einer Wahrheitstreue, mit einer Schonungslosigkeit gegen das eigene Ich, einer fanatischen Hingabe an die Furchtbarkeit der Realität, daß dem nichts entgegengesetzt werden konnte als Schweigen, das verdonnerte Schweigen des zuschauenden ohnmächtigen Andern. Ja, daß man »der Andere« war, der weltenweit entfernte Betrachter, der nur das Bild sehen, den Schatten erspüren, das Verhängnis erahnen konnte, war ein Glück, sonst hätte er einen zermalmen und zerstampfen müssen. Kerkhoven kannte derartige Wirkungen nicht. Er hatte sich bisher noch nie eines solchen Spiegels bedient, um ein Stück Leben aufzufangen, an dem er tätigen Anteil nehmen sollte. Denn dieser Spiegel war ein magischer Spiegel. Die Überzeugung, die er vermittelte, war übersinnlich. Daß sie von den Sinnen ausging und sich auf das Wahrnehmbare beschränkte, war nur Schein. Die Gestalt bedeutete zu viel, um für sich allein gelten und sein zu können; sie sagte Umfassendes über einen Mann wie Alexander Herzog aus, zugleich aber legte sie das Innere der Zeit, ihr geheimstes Triebwerk gewissermaßen, wie unter Blendlicht bloß. Es war eine Erfahrung für Kerkhoven, mit der er nicht leicht fertig wurde. Stunden und Stunden hindurch verblieb er in einem Zustand bestürzter Ratlosigkeit. Ein Mann wie dieser Alexander Herzog war zweifellos in ähnlichem Sinn Zeuge wie die Hellseherin Thirriot, stand ähnlich unter Befehl und Zwang, wenn auch unvergleichlich reicher ausgestattet mit Bild und Wort, ja bild- und wortbeseelt bis ins Blut und in den Nerv. So wurde er fast zum Organ, zum Ding, zum sprechenden Instrument im Strom des Geschehens und der Wesen, verselbstet mit Geistern, Mund alles Stummen auf Erden. Darin lag auch das Aufregende und Bestürzende: wie es plötzlich den Raum ausfüllte, dies Erschienene, wie ungeheuerlich sie da war, Ganna, und nur Ganna, wie sie von den Grenzen des Lebens her auf einen zuschritt und sich wieder entfernte bis zu den entgegengesetzten Grenzen, wie sie gierig die Welt verschluckte und eine freche Lügenwelt dafür aufbaute: es durfte nicht sein, das Phantom hatte kein Recht, nach Willkür über Herz und Phantasie zu schalten, es mußte heraus aus der Sphäre, in der es entfesselt raste, es mußte exorziert werden, seine Nichtigkeit und Scheinhaftigkeit mußte dargetan und der Weg zu jener Macht gefunden werden, vor der es nichts war und bedeutete als ein schemenhaftes Unding...

Es waren große Entschlüsse, die Kerkhoven in jenen Stunden einsamen Nachdenkens faßte; man hätte beinahe von inneren Umwälzungen sprechen können; einer Absage an bisherige Grundsätze und Anschauungen. Den Rest des Nachmittags und den ganzen Abend verbrachte er im Präpariersaal der Klinik und ließ sich vor jedem Besucher verleugnen. Eben an diesem Tag war das Gehirn seines verstorbenen großen Freundes eingeliefert worden; er hatte es dem Institut vermacht, und es hatte Monate gedauert, bis es untersuchungsreif war. Kerkhoven saß davor und schaute es an, das braungelbe, seltsam kompakte Gebilde, die starr gewordenen Windungen und Geflechte, ehemals der Sitz erhabener Gedanken und eines Lebens hoch über jeglichem Wahn, eines vollkommen lauteren, vollkommen frommen Lebens, und nun ein Haufen vertrockneten Schleims, nicht viel größer als zwei Männerfäuste.

Zweimal hatte er in der Dufourstraße angerufen und jedesmal den Bescheid erhalten, das Fräulein Tochter habe sich noch nicht sehen lassen. Er wunderte sich.


 << zurück weiter >>