Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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Sie mietete zu den drei Zimmern, die sie innehatte, drei hinzu, die auf demselben Trakt zufällig frei waren. Indes die Räume mit den sparsamsten Mitteln eingerichtet wurden, hielt sie Umschau. Auf der Station, wohin sie anfangs fast täglich ging, wurden neunzig Prozent der zur Prüfung eingebrachten Kinder in Spitalspflege übernommen. Tuberkulose, schwere Hautkrankheiten, Hungerödeme bildeten die Mehrzahl der Fälle. War der Befund unverdächtig, so wurden sie für die Fürsorge vorgemerkt. Meistens zeigten sich aber dann psychische Defekte von so bedenklicher Art, daß eine sachkundige Behandlung geboten war. Um nicht müßig herumzustehen, besorgte Marie die telefonischen Anrufe, informierte die Fürsorgeämter oder beaufsichtigte einen Transport. Die Entlassenen bedurften zunächst keiner Hilfe, da sie in halbwegs guter Verfassung waren. Doch unter dem aufgehäuften Schriftenmaterial befanden sich unzählige Bittgesuche von Eltern und Vormündern und grauenerregende Schilderungen der Fürsorger und Fürsorgerinnen. Es war wie ein Meer. – Eines Tages, als Marie vor einem Stoß solcher Papiere saß, fragte sie Ellen, ob sie sich einige Adressen aufschreiben und sich von dem Notstand der Betreffenden selbst überzeugen dürfe. »Nur zu, nur Mut,« sagte die Ärztin mit ihrem schroffen Lachen, »Unterstützung jederzeit willkommen, mit den öffentlichen Geldern siehts ohnehin schon windig aus bei uns, was, lieber Hansen, Aussterbeetat heißt die Losung.« Der Angeredete war ein junger Arzt, der Ellen Ritter zur Assistenz beigegeben war. Zu ihrem Mißbehagen hatte Marie bemerkt, daß er ein unziemliches Interesse an ihr nahm. Manchmal stand er stocksteif da und starrte sie durch die Gläser seiner Hornbrille an als sei er über irgendetwas an ihrer Person vollkommen hoffnungslos. Wie lästig, dachte sie dann, wie peinlich...


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