Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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Sein Zustand änderte sich im Wesentlichen nicht. Es konnte sein, daß er nach stundenlangem matten Hinbrüten ein Buch zur Hand nahm, aber die Augen liefen teilnahmslos über die Zeilen, und alsbald ließ er es wieder fallen. Das Essen, das ihm serviert wurde, wies er mit Zeichen des Ekels zurück. Bisweilen haschte er nach Bettinas Hand und drückte seine Lippen darauf. Nur wenn Helmut, von seiner Mutter beschworen, recht leise zu sein, auf Zehenspitzen an das Bett trat und neugierig und besorgt den Hals reckte, lächelte er ein wenig. Der Arzt im Ort, ein alter Medizinalrat, kannte sich nicht aus. Er sagte dies und sagte das. Er wußte eher mit handfesten Krankheiten Bescheid. Hier war keine handfeste Krankheit, sondern etwas, worüber weder das Lehrbuch noch die bisherige Praxis Aufschluß gaben. Mit Rezepten war nicht viel zu machen, Fragen brachten einen nicht weiter. Das Gemüt, ja... der Geist... ein schwankes, unsicheres Feld, eigentlich gehörte da ein Psychiater her, er wollte es nur nicht anraten, es klang zu peinlich, weiß Gott, was die Frau dann glaubte...

Schon am Sonntag hatte Bettina das Haus Seeblick in Steckborn angerufen. Sie sprach zwölf Minuten mit Kerkhoven. Sie schilderte ihm, wie sie Alexander gefunden; sie beschrieb die sensorische Apathie, in der er hindämmerte, so präzis, daß er scherzend bemerkte, sie habe unleugbar ihren Beruf verfehlt, ihre Angaben gereichten jedem ärztlichen Routinier zur Ehre. Er bat sie, ihn am Dienstag wieder anzurufen, er werde ihr dann seinen Entschluß mitteilen. Am Dienstag dann, als sie ihm ihren ziemlich verzweifelt klingenden Bericht gegeben hatte, fragte er ohne Umschweife, ob es ihr eine Beruhigung wäre, wenn er käme. Ein paar Sekunden lang versagte ihr die Sprache. »Wenn Sie das tun wollten...!« mehr vermochte sie nicht zu antworten. Sie hatte dieselbe Empfindung, die sie in ihrem Hotelzimmer gehabt, als er ihr seine mächtige Hand auf den Scheitel legte. »Schön,« hörte sie die tiefe Stimme sagen, deren Resonanz durch die Entfernung von fünfhundert Kilometern nicht verringert wurde, »dann bin ich am Donnerstag bei Ihnen.«


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