Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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Zweiundzwanzig Hefte, engbeschrieben mit Notizen; ein fast kniehoher Stoß Blätter mit Entwürfen. Formulierungen und Zeichnungen; das war das von Kerkhoven in Jahren zusammengetragene Material. Es war auf dem Schreibtisch aufgeschichtet. Da Alexander darauf gedrungen hatte, es zu sehen, zeigte er es ihm. »Bettina sagt mir, Sie dächten an eine neue Niederschrift,« begann Alexander schüchtern; »auch Marie... zu ihr haben Sie sogar von zwei bis drei Monaten gesprochen, wenn Sie täglich vier Stunden diktieren könnten... stimmt das?« – Kerkhoven sah ihn mit einem schnellen, schiefen Blick an wie jemand, der mit heimlicher Überraschung feststellt, daß sich in einer jämmerlich konstruierten Falle unerwarteterweise eine Maus gefangen hat. In der Tat hatte er den beiden Frauen eingeredet, das Buch ließe sich bei beharrlichem Fleiß und nach sorgfältiger Ordnung der vorhandenen Skizzen leichterdings noch einmal schreiben. Als ob er noch so viel Zeit zu leben hätte; denn an die »zwei bis drei Monate« hatten auch Marie und Bettina nicht geglaubt. Nur dieser törichte Mann glaubte daran, dieser Dichter; löschte das Wissen von Joseph Kerkhovens Sterben in sich aus, weil es ihn tröstete, wenn er es vergaß; nahm an, er, der die Einmaligkeit der Entflammungen kannte, die Unwiederholbarkeit von Gedankenfolgen und Wortprägungen, die nur unter der bestimmten Leuchtstärke des augenblicklichen Innenerlebnisses Form und Gestalt gewinnen, nahm an, daß man sich bloß hinzusetzen brauche und, wie ein Schüler seine Strafarbeit, das Pensum repetieren könne! Er lächelte und sagte: »Jaja; ich denke, es wird gehen. Es kostet einen Entschluß... immerhin, möglich ist es.« Diese großmütige Lüge beglückte Alexander Herzog. Es fehlte nicht viel, und er hätte in seiner Freude Kerkhoven umarmt.


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