Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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In der Nacht darauf sprach er mit Marie von dem, was er die Todesfiktion nannte, den Wahn vom Tod. Er saß an ihrem Bett, um, wie gewöhnlich vor dem Schlafengehen, noch eine halbe Stunde mit ihr zu plaudern. Sie hatte ihre Verwunderung geäußert, daß sich Lili Meeven bei ihren verrückten Nackttänzen niemals erkälte, obgleich sie alle Fenster während ihres Gehüpfes aufreiße. »Jede andere bekäme eine Lungenentzündung oder eine schwere Angina; sie bleibt heil. Aber wenn sie sich die Lungenentzündung und die Angina einbildet, hat sie sie. Denkt man darüber nach, so wird man selber verrückt. Was schützt sie im einen Fall und macht sie im andern wehrlos?« – »Schwer zu sagen, Marie. Die Idee schützt den Menschen. Sogar die fixe Idee. Aber du hast ganz recht. Jede Hysterie enthält ein metaphysisches Problem. Hab ich dir einmal erzählt, was mir in Java mit einem jungen deutschen Geometer passiert ist? Dieser Mann hatte eine unsinnige Furcht vor Schlangen. Eines Tages kommt er zu mir, totenbleich, am ganzen Körper zitternd, eine Giftschlange habe ihn in den Fuß gebissen. Er verlangt, ich solle ihm sofort den Fuß amputieren. Ich sehe nach, kein Biß, keine Wunde, keine Rötung oder Schwellung, nichts. Der Mann bleibt bei seiner Behauptung: wenn man ihm den Fuß nicht abnehme, müsse er sterben. Er war außer sich vor Angst, aber ich mußte ihn natürlich fortschicken. Am andern Morgen war er tot. Er war unter allen Symptomen der Vergiftung gestorben. Die Obduktion ergab nicht die Spur eines Toxins im Blut. Es war alles Einbildung. Auch der Tod, wenn man will. Und doch starb er wirklich.« – »Man kann also jedes Leiden und jeden Schmerz aus dem Nichts hervorzaubern?« – »Ja, der Mensch ist zu allem fähig. Seine Möglichkeiten sind ohne Grenzen. Wenn ich das so ausspreche, ist es ein Wort, nichts weiter; man kann es glauben und auch wieder nicht glauben; erbring ich dann den Augenschein dafür, so flüchtet der Geist sofort in den Aberglauben. Er hat eine solche Angst vor der Wahrheit, auch vor der augenscheinlichen, wie jener Geometer vor den Schlangen. Und siehst du, Marie, genau genommen, ist der Tod auch nichts anderes als die Angst vor der Wahrheit. An sich selbst hat er keine Wahrheit. Ich meine, vor Gott hat er keine. Und wir müssen doch zur Wahrheit im Sinn Gottes vordringen. Versenkst du dich mit aller deiner Kraft in dich selbst, so weißt du auf einmal: es gibt keinen Tod. Mit derselben Sicherheit, mit der ich weiß: das Plasma ist kein Stoff, sondern nur eine Organisation.«

Marie sah ihn lange an. »Und das Sterben?« fragte sie. – »Das Sterben ist ein Produktionsakt wie die Zeugung. Der Ring muß sich doch irgendwo schließen. Wenn ein Stern in die Sonne stürzt, hört er dann auf? Die Sterne nähren sich von Sternen, die Seelen nähren sich von andern Seelen. Die Idee zu allen Formen steckt schon in den Urnebeln und Ätherschwingungen, warum sollte der ewige Kreislauf bei meinem mikroskopischen Ich Halt machen? Es ist unbegreiflich, ja; alles ist unbegreiflich, auch daß die Flamme brennt, ist unbegreiflich. Man muß es nur klar und streng durchdenken. Man muß es so lange durchdenken, bis das Wunder kein Wunder mehr ist, sondern ein naturnotwendiger Weg. Jedes Wunder hört auf, eins zu sein, wenn ich damit lebe und atme, wie könnt ich sonst über das Wunder Joseph Kerkhoven, über das Ich-Wunder jeden Tag stumpfsinnig zur Tagesordnung übergehen? Aber ich bin müde, gute Nacht, Marie.« – »Gute Nacht, Joseph.«

Und Marie lag da und sann und sann, seltsam heiter und entkettet.


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