Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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Am Donnerstag traf Bettina zuhause ein, zärtlich begrüßt von dem kleinen Helmut, der sie mit der Ahnungslosigkeit seiner sieben Jahre eifrig nach dem Vater fragte. Sie setzte sich sogleich mit den Behörden in Verbindung, ließ Plakate drucken und eine genaue Personsbeschreibung in alle benachbarten Gegenden versenden, schickte ein Dutzend Telegramme ab und brachte das ganze Dorf in Bewegung. Zwei martervolle Tage verflossen, in denen sie nicht aß, nicht schlief, ja nicht einmal zu Bett zu gehen wagte. Am Freitag erhielt sie eine aufgeregte, halb sinnlose Depesche von Ganna Herzog; sie beantwortete sie nicht. Telephonische Anrufe folgten; sie ging nicht an den Apparat. Da sie aber um jeden Preis verhindern wollte, daß die Frau kam, deren Gegenwart, deren Nähe sie vollends um den Verstand gebracht hätte, ließ sie sagen, es sei alles in Ordnung, man habe bereits günstige Nachrichten. Am Samstag Mittag, endlich, kam ein Telegramm von dem Vorsteher des Krankenhauses, in dem er lag. Der Arzt, der ihn dort behandelte, hatte die Aufrufe gelesen und ihn agnosziert. Eine halbe Stunde darauf war sie in einem Mietauto unterwegs. Um fünf Uhr nachmittags kam sie nach vierstündiger Fahrt in dem Spital an. Man versicherte der erleichtert Aufatmenden, daß der Kranke transportfähig sei. Man könne eine regelrechte Krankheit überhaupt nicht konstatieren, meinte der etwas schnauzische Provinzdoktor halb ratlos, halb mißbilligend; er liege nur so da und döse vor sich hin. Um sechs saß sie mit ihm im Wagen, um halb elf Uhr nachts, bei Regen und Sturm, hielt das Auto vor dem Haus in Ebenweiler. Mit Annas Hilfe brachte sie ihn zu Bett. Während der ganzen Fahrt hatte er nicht zehn Worte gesprochen. Eingehüllt in Decken hatte er sich in den Winkel des Wagens gedrückt und hohläugig ins Leere gestarrt. Bettina aber war so namenlos erschöpft gewesen, daß sie trotz des Gerüttels auf den elenden Straßen in somnolenter Unempfindlichkeit dagesessen war und nur seine Hand in ihrer gehalten hatte.


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