Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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Die Verhandlungen mit Holland zogen sich wochenlang hin. Er mußte zweimal nach Amsterdam fahren, und Mitte Dezember traf er mit einem Vertreter des Ministeriums in Düsseldorf zusammen. Endlich wurde vereinbart, daß er und drei andere Herren der Kommission am 20. April mit dem Dampfer »Wilhelmine« nach Batavia in See gehen sollten. Er teilte es Marie mit.

Bevor dies verabredet war, und nachher, verlor er sich ziemlich spurlos in vielen Städten. Um die Jahreswende hielt er sich in der kleinen Universitätsstadt auf, in der er als junger Arzt praktiziert hatte. Er lebte zu seinem Anfang zurück und ging die Wege Irlens und der achtzehnjährigen Marie. Er mied jeden Verkehr. Er wählte meist ein Quartier, wo er sicher sein konnte, daß sein Name unbekannt war. Dauernd beschäftigte ihn das Buch, für das er seit Jahren Material gesammelt; das Dutzend Notizhefte hatte er mitgenommen. Der vollständige Titel lautete: Pathologie der Wahnvorstellungen und ihr Einfluß auf Religion, Gesellschaftsform und Gesetzgebung. Wenn er zu Wissenszwecken, um eine Bibliothek, eine Anstalt, eine Klinik zu besuchen, Beziehungen anknüpfte, bediente er sich eines Decknamens und einer Empfehlung, die ihm ein Berliner Kollege auf diesen Namen ausgestellt hatte. Erst als er in Zürich arbeitete, wohin ihn der Ruf eines großen Gehirnanatomen gezogen hatte, verzichtete er auf die Maske, die ihm lästige Erklärungen erspart hatte, ihm aber hinderlich gewesen wäre, wenn er, wie es sein Plan war, von Übersee aus wieder hierher zurückkam, um die begonnenen Studien fortzusetzen. Denn das Gehirn, sein Bau und seine Funktionen, trat nunmehr in den Vordergrund seines Interesses.

Er hatte nie so mitten in der Wirklichkeit und zugleich so außerhalb der Wirklichkeit gelebt. Es war die gewünschte Entkettung auf der einen und eine neue Verschmiedung auf der andern Seite. Seine Sinnesorgane betätigten sich mit unvergleichlich größerer Schärfe und Genauigkeit. Er arbeitete vierzehn Stunden des Tages ohne die Spur von Ermüdung. Wenn er einen mehrstündigen Marsch gemacht hatte, genügten vier Stunden Schlaf und ein kaltes Bad, und er war wieder frisch und gespannt. Um seinen Körper in jeder Weise an die veränderten Bedingungen zu gewöhnen, lebte er ausschließlich von Gemüse, Obst und Milch. Er nahm fünfzehn Pfund ab und fühlte sich um fünfzig leichter. Die Säfte gesundeten. Die Nerven waren empfindlicher und folgsamer. Er verlegte sich auf das Studium seiner Atmung, seines Herzschlags, seines Bewegungsrhythmus, ganz sachlich und unpersönlich. Von den schulmäßigen Anschauungen, den von Halbdilettanten gepredigten asiatischen Disziplinen hatte er nie viel gehalten, da seine Überzeugung von der individuellen Verschiedenheit der Rasse, der er angehörte, unbeirrbar war und er an eine spezifische Verwüstung des europäischen Lebens und Lebensvorrats glaubte, die in ihren Anfängen Jahrhunderte zurückreichte, weshalb ein allgemeines Gesetz wirksam zu machen, konnte es selbst formuliert werden, auch wieder generationenlang dauern mußte. Aber wenn man, als Arzt seiner selbst, den Instinkt für den eigenen Körper systematisch verfeinerte, wenn es gelang, Gesicht und Gehör nach innen zu richten und sie zur höchsten Aufmerksamkeit und Erfahrungsbereitschaft zu erziehen, dann durfte man auch ungewöhnliche Leistungen von dem so verwandelten und in Zucht gehaltenen Organismus erwarten. Es ging da nicht um Schmerzvermeidung oder Krankheitsverhütung, überhaupt nicht um egoistische Ängste, sondern prinzipiell darum, diesen kurzlebigen Kloß, das ungeheure Protoplasma Mensch über seine von außen her verkürzten Maße zu treiben und bis nun unbekannte helfende oder beispielgebende Fähigkeiten in ihm zu entwickeln.


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