Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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Der Fall Klothilde Haar

Zweifellos war es die Geschichte mit der Klothilde Haar, die meiner Hoffnung, mit Ganna zum Frieden zu kommen, den Todesstoß gab. Die Monate bis zum Sommer 1919, die letzten, die ich mit ihr in gemeinschaftlichem Haushalt verbrachte, können nicht anders denn als böser Traum bezeichnet werden.

Während die österreichische Monarchie zusammenbrach und in Fetzen gerissen wurde; während Deutschland unter Revolten stöhnte und sich in Krämpfen wand; während der von den Schlachtfeldern fortgewehte Leichendunst die Städte verseuchte und als Grippepest schien wegmähen zu wollen, was noch an jungen Leben übrig war; während die Not aus Verzweifelten Verbrecher, die Enttäuschung aus ehemals Opferwilligen Banditen machte; während im Osten eine neue Welt entstand und im Westen sich die alte in Form von papierenen Verträgen selbstmordete: währenddem stülpte Ganna in ihrem kleinen häuslichen Staat das unterste zu oberst, häufte Zwist auf Zwist und machte den Ihren das Leben zum Privatinferno, aus keinem andern Grund als weil sie in den Wahn verfallen war, die Klothilde Haar sei meine und Bettinas Kreatur, beauftragt und bezahlt, sie, Ganna, gänzlich zu verdrängen.

Die Haar war kurz nach Doris' Geburt ins Haus gekommen. Sie war ein Fräulein Mitte der Dreißig, ein kaltes, moroses Wesen, nicht sehr arbeitsam, nicht sonderlich vertrauenswürdig. Aber Ganna hatte anfangs ihre Tugenden nicht genug preisen können, hauptsächlich deswegen, weil die Haar das Kind abgöttisch liebte; solche Leidenschaften finden sich ja nicht selten bei dienenden Frauen; im übrigen haben sie für kein Geschöpf auf Erden einen Funken Zuneigung.

Durch die Zeit und die Umstände war ich genötigt worden, mich selber der Wirtschaft anzunehmen, da Ganna die Schwierigkeiten nicht bewältigen konnte. Ich hatte den Fehler begangen, der Haar gewisse Rechte einzuräumen, durch die sich Ganna benachteiligt fühlte. So hatte ich ihr unter anderm den Schlüssel zur Speisekammer übergeben und verrechnete mit ihr über die Vorräte von Mehl, Zucker, Reis und Fett, die sie in meinem Auftrag angeschafft hatte. Ich konnte es nicht mehr mitansehen, wie die Kinder an aller kräftigen Nahrung Mangel litten; Ganna war unfähig, für ausreichende Kost zu sorgen, die Erwerbung von einem Kilo Butter scheiterte an ihrer Hilflosigkeit in allen praktischen Dingen.

Als sich nun erwies, daß die Haar feste Beziehungen zu Schleichhändlern hatte und sie mir anbot, diese Beziehungen im Interesse des Haushalts zu verwerten, griff ich zu und zahlte auch jeden geforderten Preis. Schon dies erzürnte Ganna, denn bei ihrer ans Asketische grenzenden Bedürfnislosigkeit dünkten ihr alle Ausgaben für Essen und Trinken, sofern sie nicht auf Stillung des Hungers und Durstes abzielten, überflüssig, wenn nicht verbrecherisch. Kam hinzu, daß der Vermittler zwischen den Schleichhändlern und der Haar deren Geliebter war, ein Herr namens Wüst, der bis zum letzten Tag des Kriegs in der Etappe gestanden war und nun wie so viele einen Erwerb suchte. Abends in der Dunkelheit schleppte er ins Haus, was er bei Tag erschachert hatte, dann kam die Haar mit der Rechnung zu mir, einer gesalzenen Rechnung, um die Wahrheit zu sagen, und sie wurde nicht versüßt durch das unangenehm schadenfrohe Lächeln der Person.

Die Einmengung und das lichtscheue Treiben des Wüst wirkte auf Ganna wie ein giftiger Stachel. Sie überhäufte die Haar mit ehrenrührigen Bezichtigungen. Die Haar war ihrerseits auch nicht auf den Mund gefallen. Schließlich drohte sie zu Gericht zu gehen und Ganna wegen Verleumdung zu verklagen. Ich sagte zu Ganna heftig: »Dazu darfst du es nicht kommen lassen.« Sie erwiderte, dergleichen zu tun werde die gemeine Diebin sich hüten, sie hätte keine Ursache, auf die fette Pfründe zu verzichten, in deren Genuß sie zu setzen ich in meiner Charakterlosigkeit für gut befunden hätte. Die Haar, die an allen Türen horchte, hatte ein sadistisches Vergnügen an solchen Szenen. Sie hegte einen so ingrimmigen Haß gegen Ganna, daß sie sich schon deswegen an ihren Posten klammerte, um sich an den Qualen ihrer Feindin zu weiden. Ich hinwiederum konnte mich nicht entschließen, sie fortzuschicken, denn in dieser Zeit des Aufhörens aller Dienstwilligkeit hätte ich nicht so leicht einen Menschen gefunden, der bei allen sonstigen schlechten Eigenschaften das Kind gewissenhaft betreute, zudem war ich heilfroh, daß jemand da war, der ordentlich kochte und das Hauswesen halbwegs beisammenhielt.

Die unerquicklichen Auftritte zwischen Ganna und der Haar häuften sich. Sogar in der Nacht ging es plötzlich los; das Stimmengekreisch drang bis an meinen Schreibtisch, sodaß ich mir die Ohren mit Watte verstopfte. Wenn Herr Wüst in der Abenddämmerung in den Flur schlich, schwer bepackt, stand Ganna auf der Lauer und empfing ihn mit Beschimpfungen. Eines Tages, als ich nicht zuhause war, machte der Mensch Anstalten, sich in seiner Wut tätlich an ihr zu vergreifen; Ferry eilte zum Schutz der Mutter herbei; er war sehr kräftig; dadurch, daß er den Mann am Hals würgte, brachte er ihn zu Fall; sie wälzten sich auf dem Boden, und währenddem rief Ganna das Polizeikommissariat an. Die Haar weigerte sich, das Haus zu verlassen, bevor sie nicht von Ganna eine schriftliche Ehrenerklärung erhielte. Ganna hatte behauptet, die Haar hätte eine Kiste Eier gestohlen. Die Haar beschwerte sich bei mir, ich sagte zu Ganna, nach meinem Erinnern seien die Eier verbraucht worden. Ganna schäumte. Dergleichen habe sich in der Welt noch nicht begeben, stieß sie hohl-gellend hervor, der eigene Mann im Bund mit dem Dienstboten und deren Zuhälter, das sei fürchterlicher als alles, was ich ihr sonst angetan und täglich antue; aber sie wisse es längst, die Seele der Verschwörung sei die Dame Merck, die hätte die Haar samt ihrem Geliebten gedungen, um ihr das Leben zu vergällen, klar wie die Sonne, die Spatzen pfiffen es schon von allen Dächern. »Ganna!« rief ich sie an und rüttelte sie, »Ganna!« Ich zog sie ins nächste Zimmer. »Ganna! wach auf, das kannst du doch nicht im Ernst meinen!« Sie sah mich irr an und erwiderte: doch, doch, das meine sie ganz im Ernst, sie hätte auch die Beweise. »Beweise? was für Beweise? für solchen bodenlosen Unsinn Beweise?« Sie schwieg verstockt.

Die Sache mit der Haar hatte sich in der Nachbarschaft herumgesprochen. Einmal in der Nacht flog ein Stein ins Fenster von Gannas Schlafzimmer, ein andermal wurde die Haustüre mit Kot beschmiert. Einmal ging ich durch eine Ansammlung von Männern hindurch; als ich an ihnen vorüber war, schrie eine hohe dünne Stimme: »Schmeiß ihr den Krempel in die Zähne, dem Viech!« Ich schloß das Tor hinter mir, da erfüllte der Ruf den Flur, das Stiegenhaus, die Zimmer, und als ich mich an den Schreibtisch setzte, las ich es auf dem leeren weißen Papier: schmeiß ihr den Krempel in die Zähne!

Verse

Über alle diese Vorgänge hatte ich nicht ein einziges Mal mit Bettina gesprochen. Ich brachte es nicht über mich. Die Scham verschloß mir den Mund. Ganna richten hieß mich selber richten. Doch kann ich nicht behaupten, daß Bettina deshalb nichts wußte. Sie konnte sogar auf das geschäftige Hörensagen verzichten. Mein Stillschweigen war für sie durchscheinend wie Seidenpapier. Ich bin kein Mensch, der etwas verbergen kann. Alle Stimmungen, alle Erlebnisse, fast die Gedanken liegen offen zutage. Freunde haben sich oft über mein vergebliches Bemühen, etwas zu verheimlichen, lustig gemacht. Und Bettina, sie erriet, was mit mir geschah, wenn ich noch nicht über die Türschwelle war. Mich auszuforschen unterließ sie. Damit war nicht gedient. Mir über Betrübnis und Sorge hinwegzuhelfen, damit war gedient. Sie war nicht der Meinung, daß zwei Leute, die einander lieben, sich fortwährend ihr Unglück klagen sollen. Besser, man schmeichelte es weg. Ihr konnte in jener Zeit so Schlimmes nie zustoßen, daß sich der Himmel ganz bewölkte; ein bißchen Sonne fand sich zuletzt doch. Wenn man sich ernstlich zusammennahm, sich recht dicht bei seinem guten Geist hielt, sich nicht mausig machte, dann zeigten sich die Mächte nicht dauernd ungnädig. Mit der Geige in der Hand konnte man ihnen sogar unter Umständen was abdingen, womit man wieder eine Weile weiterleben konnte.

Ich kann nicht sagen, was mir das war und bedeutete, dieser Glaube an den Weg, an die Bestimmung, an den Sieg des redlichen Willens über Trübnis und Fährnis. Ich sah ihr mit Verwunderung zu; und mit Neid. Überall waren Menschen, die ihr gefällig waren und andere, denen sie zu nützen suchte; eine arme Hausschneiderin, die sich kümmerlich durchhungerte und der sie Aufträge zuschanzte; ein junger Künstler, dem sie Empfehlungen verschaffte; ein Freund, der krank aus dem Feld zurückgekehrt war und den sie pflegte und mit Nahrungsmitteln versorgte. Immer war sie unterwegs, um etwas Zweckentsprechendes und Hilfreiches zu tun, nicht wie eine Samariterin, davon hatte sie nichts an sich, eher wie jemand, der sich einen Sport daraus macht, gewisse Versäumnisse des Schicksals auszugleichen, so nebenher, hinter dem eigenen Rücken. Dabei kenne ich niemand, der so häufig und böswillig mißverstanden wurde wie sie mit ihrer Kummerlosigkeit und lächelnden Aufrichtigkeit. Das hat mir oft zu denken gegeben. Vielleicht war es, weil sie zu geschwind in Worten war, zu sicher im Urteil, und weil sie sich nichts vormachen ließ, immer mit ihrer kleinen tapferen Wahrheit auf den Plan trat. Das verletzte natürlich viele. Es ist gut, wenn man einen Menschen hat, mit dem man sich beschäftigen kann, ohne mit ihm kämpfen zu müssen. Unerschöpfliche Fülle von Anschauungen, wenn sie mir am Abend erzählte, wie ihr Tag verlaufen war, und Stoff zu Gesprächen bis in die Nacht.

In diesen Tagen geschah es auch, daß ich eine ganze Kette von Sonetten für sie schrieb, von denen drei hier stehen mögen.

        Ich träumte dich in blühenden Narzissen,
in einer Landschaft zwischen Sonn und Mond
so wie Diana zärtlich hingerissen,
die sich mit ihrem Lächeln selbst belohnt.

Der Erdwelt selig dienende Vertraute,
gabst du dich ihr mit Aug und Herzschlag hin,
und als dem Traum gewisser Tag erblaute,
warst du im Frühstrahl meine Führerin.

Das macht dich schön, das Tun und Immer-Tun,
die stolze Abkehr von verjährten Leiden,
das Sträuben gegen träge Dunkelheiten,
das Stets-Verschwenden und das Nirgends-Ruhn.
So bist du mir geheimnislos entfaltet,
in jeder Form zwiefach und wahr gestaltet.

 

Daß ich als Schwester dich so spät erkannte,
als geisterhafte Freundin mir erwählt,
mit Namen meiner Seele dich benannte
und mit der deinen erst im Herbst vermählt:

Das ist wie Strafe und zu wissen bitter,
denn meine Jahre haben raschern Sturz
als eines Vogels Flug im Vorgewitter
und gnadenlos ist mir der Abend kurz.

Graut deiner Jugend nicht vor meinen Narben?
Vergällt nicht mein Oktober deinen Mai?
Die Straße hinter mir ist Wüstenei,
an Bord der deinen stehen Blut und Garben.
Dennoch: mein Inneres hat kein Sturm beschädigt
und was uns bindet, ist des Jahrs entledigt.

 

Stein, den ich hebe, was verschweigst du mir?
Ich such dich, Gott, und sehe kein Gesicht.
Und Sonne Mond und Sterne Baum und Tier,
warum erscheint ihr und ich faß euch nicht?

Und du, beseelt Geschaffne, Zwillingsgeist,
an meine Brust Geschmiegte: bist dus auch?
ist denn der Schall, dem du den Namen leihst,
nicht bloß Vokalrausch und Gespensterhauch?

Und ist das Mitdirsein und Mitdirschreiten
nicht Bild von hingeträumten Wirklichkeiten?
und muß dein schlagend Herz, dies liebe Leben,
nicht weltenweit von mir im Dunkel schweben?
Kein Nein, kein Ja. Da bleiben Engel stumm.
Das Du ist ewiges Mysterium.

Der Entschluß

Und dann, im Herbst, begann die große Umwälzung in meinem Leben.

Es war an einem milden Oktobertag, als wir von einer Wanderung im Gebirg zurückkamen und uns auf einer Bank unfern der Dorfstraße niederließen, froh der Einsamkeit, die mit dem Herbst in das geliebte Tal eingezogen war. Wir hatten lange schweigend über die Wiesen geschaut, auf denen der abendliche Nebel braute, da fragte mich Bettina, ob ich mir schon überlegt hätte, was im kommenden Winter mit uns beiden geschehen solle. Ich sah sie betroffen an. Ich verstand nicht gleich, was sie meinte. »Was soll sich denn ändern?« fragte ich. Sie schlug die Augen nieder. Sie sagte, wenn ich der Ansicht sei, es brauche sich nichts zu ändern, möge ich ihre Frage vergessen. Ich begriff, daß es keine aufs Geradewohl gestellte, keine nebensächliche Frage gewesen war. Ich wußte, worauf sie hinauswollte. Ich hatte ein schlechtes Gewissen. Ich stotterte ein paar abgerissene Worte; ich sähe ja selbst... ich hätte in der letzten Zeit oft daran gedacht... Dann verstummte ich wieder. Bettina tastete sich zaghaft vor. Ob ich es für richtig hielte, daß wir weiterhin mit der Binde vor den Augen lebten?... ob es anginge, daß ich so wie jedes Jahr zu Ganna zurückkehrte? »Meinst du, daß es gut ist? Ich weiß nicht,« sagte sie. Zwei Sekunden lang setzte mein Herzschlag aus. »Was? was weißt du nicht, Bettina?« forschte ich. Sie nahm allen Mut zusammen. »Ich weiß nicht, ob ich es kann. Ich fürchte, ich kann nicht mehr,« flüsterte sie. Ich starrte zu Boden. Meine Lippen formten die Worte, die noch unausdenkbar waren: »Von Ganna weggehen? Das meinst du?«

Bettina hatte nie zuvor ausdrücklich davon gesprochen, doch hatte ich in den letzten Tagen zu spüren geglaubt, daß sie auf meine Initiative wie auf eine Erlösung wartete. Nur konnte sie es nicht über sich bringen, den Anstoß zu geben. Auch jetzt lagen der Wunsch, der Druck der inneren Notwendigkeit einer Entscheidung lediglich in ihrem bewegten Mienenspiel, ihrem inhaltvollen Blick. Ich hatte das Gefühl: in dieser Stunde darf ich nicht versagen, es geht um alles. »Und die Kinder?« fragte ich. Sie legte ihre Hand auf meine. »Die Kinder, ja. Das ist natürlich hart. Aber ich sage mir, zwei sind unter deiner Obhut groß geworden...« – »Doris braucht mich, Bettina.« – »Gewiß. Nun, du verlierst sie ja nicht. Ich denke, sie wird so viel wie möglich bei uns sein.«

Ich hörte nur halb und das Halbe mit Bangen. Ich hielt mir vor, daß ich vieles an den Kindern gutzumachen hatte. Was ist verderblicher als die Gegenwart einer niemals gelassenen Mutter, einer gehetzten, mit sich zerfallenen, mit der Menschheit hadernden, von Menschen nichts wissenden? Alle Abwehrtriebe erwachen, Zärtlichkeit wird Last, Strafe Willkür, kein Eigenwille stößt auf den heimlich ersehnten Widerstand, der Kern verkümmert und im dunklen Gefühl seiner Gefährdung verbirgt er sich hinter Schutzhüllen, die ihn nicht entfalten, sondern verhärten. Und jetzt sollte ich sie ganz verlassen, da es doch einzig meine Gegenwart war, die sie vor dem Ärgsten bewahrte?

Bettina sagte leise: »Du mußt wissen, was du tust. Ich mache nur einen Vorschlag. Diese vier Jahre, sie haben doch etwas zur Reife gebracht. Es stimmt nicht mehr zu mir, das Verhältnis in öffentlicher Heimlichkeit. Es hat keine Wahrheit und keine Berechtigung mehr.« – »Sehe ich ohne weiteres ein, Bettina. Aber Ganna wird nie in eine Scheidung willigen, nie.« – »Es handelt sich nicht um Scheidung,« antwortete Bettina sanft; »es handelt sich um einen Akt der Sauberkeit, mein Lieber. Zunächst wenigstens.« – »Wie?« fragte ich überrascht, »du könntest... du würdest vor aller Welt...?« – Sie lächelte. Damit war alles gesagt. – »Auch wenn ich auf den offiziellen Schritt verzichte,« beharrte ich, »ahnst du, was uns bevorsteht?« – Sie nickte. Sie wußte es längst. – »Und wo sollten wir leben? Dort? Unmöglich. Sie würde... nein, du kannst es dir trotzdem nicht vorstellen...«

Sie hatte alles erwogen. Sie entwickelte mir ihren Plan. Man würde in Ebenweiler bleiben. Man würde sich verborgen halten. Es gab da eine alte Hofrätin Wrabetz, die eine geräumige und bequeme Villa besaß, die sie zu einem erschwinglichen Preis für den Winter zu vermieten bereit war. Im Frühjahr müßte man freilich in ein Bauernhaus übersiedeln, im Herbst hätte man wieder die Villa. Dies alles legte sie mir mit ihrer ruhigen Bestimmtheit dar, in einer Art wie man ein Kind lenkt und führt, wobei sie mir zugleich zu verstehen gab, daß in allen Stücken sie es sei, die sich von mir gelenkt und geführt wußte.

Mein Blick irrte zwischen zwei Visionen hin und her, einer beglückenden und einer unaufhellbar finsteren. Ich war innerlich wie gelähmt. Die Jahre kamen über mich als Warner. Sechsundvierzig Jahre und die ganze Existenz von Grund aus umstülpen, sagte ich mir, so radikal, daß kein Stein mehr auf dem andern bleibt. Instinktiv suchte ich nach Gegenargumenten. Ich deutete schüchtern an, daß sie ja selber nicht frei sei. Sie machte eine ihrer erstaunlichen Gesten, die ihr alle Worte ersparten; sie besagte in diesem Fall: ich werde an dem Tag frei sein, an dem ich für dich frei sein muß. Das schlug mich. Ich sagte, ich würde an Ganna schreiben, heute noch. Sie schien es zu billigen, aber ich merkte sofort, daß sie es nicht billigte. Ich fragte, was dagegen einzuwenden sei. Sie entgegnete, der Einwand liege auf der Hand, sprechen müsse ich mit Ganna doch. Unbedingt, versetzte ich, aber es sei besser, wenn sie schon vorbereitet sei, das mildere den ersten Choc. Vor allem müsse sie es schwarz auf weiß sehen, daß von Scheidung nicht die Rede sei. Bettina begriff meine Angst nicht. »Bist du nicht Herr über dein Leben?« fragte sie, »wer hat mehr Anspruch, es zu sein?« – »Dennoch. Es wird fürchterlich.« – Bettina meinte, es sei verfehlt, ja gefährlich, falsche Hoffnungen in Ganna zu wecken; ich dürfe mich nicht durch ein Versprechen binden. Sie sagte immer nur »ich meine«, wenn sie von der Lösung einer Schwierigkeit sprach, aber ich hatte längst die Erfahrung gemacht, daß diese Meinung fast stets die richtige war und den einzigen Ausweg zeigte. Schon deswegen müsse ich zu Ganna fahren, um in meinem Haus alle nötigen Anordnungen zu treffen, hielt sie mir vor, und damit war es beschlossene Sache für sie, bei wem ich während meines Aufenthalts in der Stadt wohnen sollte; nicht im Hotel, sondern bei einer gemeinsamen Freundin, der Unauffälligkeit halber. Dies setzte mich neuerdings in Schrecken. Es war so rasch, von vornherein so unabänderlich. Als ob es abänderlich hätte sein dürfen. Wenn von nun ab eine echte Gemeinschaft Alexander-Bettina errichtet werden sollte, war es nicht möglich, daß ich in mein gewesenes Heim zurückkehrte, um als Gannas Ehemann darin zu wohnen. Nie und nimmer hätte Ganna sonst begriffen, daß es Ernst war. Ich sagte: »Du hast Recht, Bettina. Du hast vollkommen Recht. Es leidet keinen Aufschub mehr.«

Desungeachtet wehrte ich mich stumm. Ich hatte nicht den Mut, ihren Rat zu befolgen und Ganna ohne briefliche Vorbereitung gegenüberzutreten. Ich war für die Schritt-für-Schritt-Methode. Ich war kein Knotenzerhauer wie jener andere Alexander. Was Bettina vorschwebte, war etwas sehr Einfaches: mich glücklich zu machen, mit mir glücklich zu sein, mich zu entlasten. Ich aber fühlte mich sonderbar überrumpelt. Ich hatte die Möglichkeit, mein Leben von dem Gannas zu trennen, aufrichtig noch nie erwogen. Daß ich es als ein verfehltes Leben seit langem empfunden und nach und nach auch erkannt hatte, änderte daran nichts. Es war wohl der eingefleischte Widerwille zu handeln, der mich von der klaren Entschließung abgedrängt hatte. Von den zwei Hauptgattungen von Menschen, der handelnden und der beharrenden, bin ich ein typisches Exemplar der letzteren Art. Damit hängt ein gewisser Fatalismus zusammen, der nicht durchaus Charakterschwäche sein muß, obwohl sich niedrige Eigenschaften um ihn gruppieren, die in der Bequemlichkeit und Gewöhnung wurzeln. Das Neue hat für solche Menschen einen abschreckenden Aspekt. Nur keine Veränderungen, keine neuen Kämpfe um das Tägliche, sagen sie sich, die alten sind aufreibend genug gewesen. Philiströse Anhänglichkeiten an Sachen spielten dabei eine Rolle; das zum Asyl gewordene Haus; das liebgewordene Bett; der alte braune Schreibtisch mit dem tintenbeklexten grünen Bezug und einem Dutzend vertrauter Gegenstände. Freilich auch stärkere Bindungen: das Kind, die kleine Doris, die so zärtlich an mir hing, daß sich alle ihre Lebensäußerungen um mich drehten. Wie sollte man der Vierjährigen begreiflich machen, daß der Vater in einem andern Haus, bei einer andern Frau wohnen würde? Konnte es mich nicht die Liebe des geliebten Wesens kosten? würde es mich nicht vergessen? bedeutete dieses Vergessen nicht eine Seelenwunde?

Doch solche Gedanken, so trüb sie waren, hielten sich erst im Vorraum meiner Angst vor Ganna auf. Und diese Angst verfinsterte mein Inneres dermaßen, daß ich sie Bettina nicht rückhaltlos einzubekennen wagte. Ganna lag mir wie ein Gebirge auf der Brust. Allgegenwärtig füllte sie den Tag und die Nacht. Beruhte vielleicht auch hier auf Gewohnheit, Gewohnheit des Ringens und Haderns, des Lastenschleppens und Schuldenabzahlens, was ich für Pflicht und, noch immer, noch immer, für ein »mystisches Band« hielt? Abenteuerliche Fluchtpläne schossen mir durch den Kopf, um von der einen wie von der andern Frau loszukommen. Die Forderung Bettinas, das reinigende Entweder-Oder, erschien mir in meiner Verwirrung als brutaler Eingriff in meine Existenz. Wäre sie mir nicht der teuerste Mensch auf Erden gewesen, den missen zu sollen eine Vorstellung war, die ich nicht mehr ertrug, ich hätte mich wahrscheinlich in den ersten Tagen des inneren Zwiespalts aufgelehnt und wäre, vernichtet und gebrochen allerdings, in meine Gannahölle zurückgekehrt. Ja, wenn Ganna ein vernunftgerichtetes Weib wäre, grübelte ich, überredbar, verwandelbar, wenn sie zur Welt, die Welt zu ihr einen Zugang hätte, wie wundervoll wäre es dann, mit Bettina zu leben, wie leicht, wie froh könnte man werden, endlich leicht, endlich froh. Doch schon die Notwendigkeit, daß ich mich Ganna eröffnen mußte, war ein glühender Schrecken.

Aber ich hatte mich nun entschlossen. Wenn der Beharrende sich einmal zum Handeln durchgerungen hat, bewegt er sich mit nachtwandlerischer Starre in der Kette der Geschehnisse, und sogar der Fehltritt wird ihm zum Behelf. Und da jeder Schriftsteller glaubt, sein geschriebenes Wort enthalte mehr Überzeugungskraft als sein gesprochenes, da außerdem ein Brief eine gewisse Stillung der Nervenungeduld ist und keinen augenblicklichen Dreinredner zu fürchten hat, setzte ich mich hin und schrieb ausführlich an Ganna. Den Sachverhalt zunächst. Die Unmöglichkeit, die Dinge in ihrem alten Stand zu lassen. Meine lastvolle Gemütsverfassung seit Jahren und daß ich aus der Schwärze heraus müsse. Inständige Bitte, Ganna möge mir helfen und sich nicht trotzig widersetzen. Zum Schluß die feierliche Versicherung, weder ich noch Bettina dächten an Scheidung, wir wünschten beide nichts anderes als uns in freier Gemeinschaft zu verbinden. Dieser unehrliche Besänftigungsversuch war, wie Bettina es vorausgewußt, ein schwerer Fehler und der Anfang und Grundstein von allem kommenden Elend und Entsetzen.

Ein paar Tage darauf fuhr ich nach Wien. Wie wir es besprochen hatten, wohnte ich bei einer Freundin Bettinas, der Baronin Hebenstreit, einer jungen Kriegswitwe. Es war mir nicht eben behaglich, als Logiergast in der Stadt zu sein, wo mein Haus und meine Kinder waren. Auf Ganna wirkte es wie ein Faustschlag.

Das Uferlose

Sie glaubte an die ganze Sache nicht. Ja, den Brief hatte sie gelesen, zweimal, fünfmal, zehnmal, aber was besagt ein Brief. Sie brauchte Augenscheinlichkeit. Ein Brief war keine Augenscheinlichkeit. Ein Brief kann widerrufen werden. Einen Brief kann man unter fremden Einfluß, unter unwiderstehlichem Zwang schreiben; (und die Überzeugung von diesem Einfluß, diesem Zwang setzte sich von da ab in ihrem Hirn als eherne Unumstößlichkeit fest und wurde damit gleichfalls zum Ausgangspunkt des heraufziehenden Verhängnisses). Ich hatte ihr in einer Nachschrift zu dem Brief mitgeteilt, ich würde sie am Dienstag um zwölf Uhr mittags besuchen; am Montag reiste ich. Die Ankündigung des Besuchs erschien ihr als barer Unsinn. Was sollte das heißen? Sich selbst in seinem eigenen Haus besuchen? Lächerlich. Am Montag Abend telephonierte ich ihr und nannte meine Adresse. Nun hatte sie die Augenscheinlichkeit: ich wohnte nicht bei den Meinen. Ihre letzten Illusionen stürzten krachend ein.

Als sie sich von ihrer Betäubung erholt hatte, überlegte sie, was sie ihren Bekannten, den Schwägern, den Schwestern, der Mutter, den Kindern, den Dienstleuten sagen solle. Es war mehr als ein Unglück für sie, es war eine unauslöschliche Schande. Sie wußte nicht, wie sie, mit dieser Schande behaftet, den Menschen unter die Augen treten sollte. Obgleich sie sich damit tröstete, daß es doch nur eine Frage von wenigen Tagen sein konnte, hatte sich das ihr Unfaßliche ereignet, daß ich bei fremden Leuten Unterschlupf gesucht hatte. Die fremden Leute würden es alsbald andern fremden Leuten mitteilen, damit war sie gerichtet und entehrt.

Um dem Klatsch zuvorzukommen, ließ sie sich am Telephon mit verschiedenen Männern und Frauen verbinden, die sehr erstaunt waren, von ihr zu hören, ich sei früher als sie gedacht vom Land zurückgekehrt und hätte mich wegen einer unvorhergesehenen Hausreparatur bei Frau von Hebenstreit einquartiert. Obwohl sie es geschickt verstand, diese Tatsache irgendeiner Frage, die sie stellte, oder einer Mitteilung, die sie machte, wie etwas Beiläufiges hinzuzufügen, wurden die Leute gerade dadurch stutzig und hinlänglich aufgeklärt. Dieselbe Methode, das Schicksal zu korrigieren und die Wirklichkeit auszulöschen, unternahm sie bei den Kindern. Auch die Kinder glaubten ihr nicht. Sie schauten bei der Nachricht, daß ich wo anders wohnte, kühl betroffen drein. Wahrscheinlich hatten sie Ähnliches längst erwartet.

Bei all diesen Verrichtungen und Bemühungen sah ich sie leibhaftig vor mir, wie sie auf Filzschuhen im Hause umherging und mit lispelnder Stimme sprach; wie sich die ahnungsvolle Ganna vor der zuversichtlichen Ganna versteckte und der einen das Herz weh tat, die andere vor Ungeduld verbrannte ; wie sie mit weitaufgerissenen Augen bei jedem Signal zum Telephon stürzte; wie sie von einer gewissen Stunde ab ohne Unterlaß in meinem Arbeitszimmer auf und ab schritt, mich an den Schreibtisch zauberte, mit Vorwurfsblicken durchbohrte und bisweilen ihre stereotypen Verfluchungen vor sich hin murmelte, derengleichen ich so oft gehört; dieses Weib... Gott wird sie strafen... an ihren Kindern wird er sie heimsuchen... vernichten werde ich sie... Doch es gab noch eine andere Ganna, die von solchen megärenhaften Reden unberührt war; der rannen die hellen Zähren aus den Augen, und sie wischte sie mit der geballten Faust weg. Als ich die Tür öffnete und eintrat, warf sie sich mir mit einem erstickten Ruf an die Brust.

Unmöglich, alle Unterredungen zwischen mir und Ganna aufzuzeichnen, auch nur zu zählen. Schauplätze waren: die Bibliothek, die Terrasse, der Garten, Gannas Schlafzimmer, die Straße; Zeit: der Morgen, der Mittag, der Abend und die Nacht. Zusammengesetzt ergäben sie ein ununterbrochenes Reden von vielen Tagen. Auf Platten aufgenommen, würden sie die erschöpfenden und aussichtlosen Versuche zweier Menschen vorführen, voneinander etwas zu erlangen, was gegen das innere Vermögen von beiden geht. Der eine will ein Band zerreißen, der andere will es flicken, da er denn doch bemerkt, wie viele Löcher und Risse es schon hat. Der eine will eine Aschenstätte verlassen, der andere behauptet, das Feuer brenne noch, heiliges Feuer, das zu löschen Frevel wäre. Der eine rechnet mit der Vergangenheit ab, der andere anerkennt die Bilanz nicht und winselt um weiteren Kredit. Gespräche so alt wie die Welt, so unfruchtbar wie Kieselsteine, so quälend wie Zahnschmerzen. Hier erhielten sie neuen Sinn und furchtbare Tragweite durch Gannas Art und Person.

Ich war mit den liebevollsten Vorsätzen zu ihr gekommen. Um sie zum freiwilligen Verzicht auf die Ehegemeinschaft zu bewegen, bot ich alle Güte auf, deren ich fähig war. Ich sprach von den neunzehn Jahren unseres Zusammenlebens und der Verpflichtung, die ihr diese Jahre auferlegten; daß sie das Andenken an sie nicht leichtfertig zerstören dürfe. Ganna stimmte mir zu, doch mit der Einschränkung, dieselbe Verpflichtung bestünde auch für mich. Ich berief mich auf ihr Verständnis für meine Arbeit, mein Werk. Gewiß, antwortete Ganna, eben deshalb müsse sie mich von einem Schritt zurückhalten, der meinen geistigen Ruin herbeiführen würde. »Woher weißt du denn das?« fuhr ich auf, »schämst du dich nicht deiner Vermessenheit?« Das verrate ihr das Gefühl, beteuerte sie mit Parzenblick, nie habe sie sich getäuscht, wenn es sich um mein Wohl und meinen Weg gehandelt habe.

Sie verstand nicht. Sie wollte nicht verstehen. Wir kamen nicht vom Fleck.

Niemals würde ich ihr meine Freundschaft entziehen, wenn sie sich dieser Schicksalsstunde gewachsen zeige, sagte ich. Sie war erschüttert. Sie weinte. Es sei so schwer, versetzte sie; es sei so schrecklich schwer. Natürlich sei es schwer, fuhr ich fort, aber sie dürfe mir nicht das Verfügungsrecht über mein Leben rauben; soviel müsse sie von mir gelernt und glauben gelernt haben, daß die Bahn der Bestimmung, die einer gehe, nicht durch Zwangsmaßnahmen abzugraben sei. Sie gab es schluchzend zu, griff aber im selben Atem zu dem Rettungsargument, sie müsse für ihre Kinder kämpfen. Darauf bemerkte ich ihr, es seien ja auch meine Kinder. Darauf sagte sie: »Du achtest ihrer ja nicht in deinem blinden Trieb.« So beleidigend der Anwurf auch war, beherrschte ich mich doch und erwiderte, die Kinder würden ihr ja nicht weggenommen, so wenig ich mich ihnen entzöge, gerade um der Kinder willen müsse sie sich menschlich und stolz betragen, zu viel Streit und Hader hätten sie schon geschluckt. »Deine Schuld! deine Schuld!« weinte sie auf. »Mag sein, meine Schuld,« ließ ich zu, »obwohl es eine einseitige Schuld in diesen Dingen nicht gibt.« Ich stellte ihr vor, daß ich die Enttäuschung, wenn sie auf ihrem niedrigen Standpunkt beharre, nicht verwinden würde; sie habe doch das Zeug zu allem Guten und Großen in sich, habe die Dichter geliebt, die Bilder geliebt, die Weisheit geliebt; ich glaubte an sie, hätte stets an sie geglaubt, aber wo sei das alles hin? Sie blinzelte verzweifelt. Sie sei so allein auf der Welt, klagte sie und rang die winzigen alten, immer altgewesenen Hände, sie habe keinen Menschen. Das Alleinsein werde sie innerlich festigen, tröste ich sie jesuitisch; ich brauchte sie; ich hätte ihr gegenüber eine Mission; die Ferne werde die Schatten mildern, das Erlittene vergolden.

Sie war leidenschaftlich bewegt. Sie reichte mir die Hand und gelobte mit zitternder Stimme, sich mir in allem zu fügen; ich kennte sie nicht; ich wisse nicht, zu welchen Opfern sie fähig sei. Ich küßte dankbar ihre Stirn. Ich übersah, daß meine hingebende Mühe, sie zu überzeugen, sie nur davon überzeugte, daß sie von einem Mann, der so empfundene, so hohe Worte an sie richtete, nicht lassen konnte. »Was soll ich tun? sag mir, was soll ich tun?« wimmerte sie. Ich: Darüber könne doch keine Unsicherheit herrschen. Sie: freudig wolle sie ihr Herzblut für mich verspritzen, nur das eine dürfe ich um Gotteswillen nie von ihr fordern: die Scheidung. Ich: sie brauche ja bloß die Hand zu lockern, den neuen Zustand mit Würde tragen und nicht mich mit einer Verantwortung belasten, die sie selbst auf sich zu nehmen habe.

Das hätte ich nicht sagen dürfen; damit gab ich arglos die Anweisung zu dem Rezept, mit dem ich langsam vergiftet wurde. Sie sei mir stets eine treue Freundin gewesen, begann sie wieder, sie habe nichts Kleinliches an sich, sie nicht, andere wohl; die sie überflüssig leiden machten, die. – »Überflüssig, Ganna? nun reißt du ja alles wieder um, was wir mühsam aufgebaut haben!« – »Weil du an Scheidung denkst,« hauchte sie, »und weil Scheidung mein Tod wäre.« Ich fing ihren rabiaten Blick auf. In meiner Torheit glaubte ich den Moment gekommen, sie an den Schwur zu mahnen, den sie vor neunzehn Jahren am Seeufer geschworen. »Du hast vor Gott geschworen, mich freizugeben, wenn ich es verlange; weißt dus nicht mehr, Ganna?« – »Natürlich, gewiß,« antwortete sie und schluckte aufgeregt. – »Also. Soll ein solches Gelöbnis keine Folge haben?« – Sie sah bestürzt vor sich hin. Sie wußte genau, daß dem Schwur eines unerfahrenen jungen Mädchens keine reale Bedeutung zukam, immerhin begriff sie, daß sich eine moralische nicht in Abrede stellen ließ. »Wenn du gerecht bist, mußt du zugeben, daß ich mein Versprechen gehalten habe,« sagte sie endlich mit dem Dulderinnen-Augenaufschlag (den Ausdruck »Schwur« vermied sie ängstlich), »oder hast du dich über Mangel an Nachsicht zu beklagen gehabt, du böser Wüstling?« Dabei tätschelte sie mütterlich meine Hand.

Es war uferlos. Ganna wurde der Auseinandersetzungen nicht satt. Sie waren ihre Lust, ihre Qual, ihr Anreiz, ihre Hoffnung. Sie redete sich die Lunge aus dem Leib. Um eine Verlängerung der Diskussion herbeizuführen, gab sie in kritischen Augenblicken scheinbar nach und nahm eine Stunde später alle Zugeständnisse zurück. Wenn ich fortging, begleitete sie mich, lange Strecken oft, suchte mit mir Schritt zu halten, um meine alten Vorwürfe wegen ihres Langsamgehens sichtbar zu entkräften und sprudelte atemlos ihre Gründe, Scheingründe, Verheißungen, Klagen und Aufzählungen meiner Sünden in immer neuen Fassungen hervor. Sie konnte nicht begreifen, was ich an dieser Bettina hatte. Bettina war doch auch nur ein Weib und wahrhaftig kein besseres als Ganna. Ich möge ihr doch gestehen, wodurch mich jene herumgekriegt habe; vielleicht könne sie mir dasselbe geben; vielleicht beruhe es auf einem Trick; sie wolle aufpassen; sie wolle gelehrig sein. Jede Nacht fiel ich wie ein Toter ins Bett...

Das Gegenbild

Bettina war eine Woche nach mir in die Stadt gefahren, um ihren Haushalt aufzulösen. Eines Abends kam ich zu ihr in die Wohnung und fand sie im halbausgeräumten Eßzimmer, im Pelzmantel. Es war kalt geworden, und sie hatte weder Holz noch Kohlen mehr. Ihre Kinder befanden sich bereits in Ebenweiler in der Wrabetzvilla. Ich blieb gleichfalls im Mantel. Es war nicht nötig, ihr von dem zu berichten, was jetzt mein Leben ausmachte. Sie wußte es ohnehin. Sie brauchte mich nur anzusehen. Ich fragte nach Paul. Sie sagte, er sei abgereist. »Wohin?« fragte ich. »Auf die Fabrik,« erwiderte sie. Es fiel mir eine Gespanntheit an ihr auf wie an einer überzogenen Violinsaite, die klirrt. Sie habe ihn zur Bahn begleitet, fügte sie hinzu, um halb sechs sei der Zug gegangen. Dann fragte sie unvermittelt, ob ich fröre. »Ja, mich friert,« sagte ich. Sie eilte aus dem Zimmer und kam mit vier Paar Schuhleisten zurück, die sie aus ihren bereits verpackten Stiefeln gezogen hatte. Aus einem Haufen Papier zündete sie, vor dem Ofen knieend, Feuer an und warf die Leisten darauf. Da sie aus Hartholz waren, wurde es nach einer Weile tatsächlich ein bißchen warm, und ich belobte sie ob ihrer Tüchtigkeit. »Wenn wir noch den Tisch und die Stühle verbrennen, wird es ganz gemütlich,« sagte ich. Sie lächelte geistesabwesend. Ich schaute sie unruhig an. Ich dachte, sie hätte ein Zerwürfnis mit ihrem Mann gehabt und erkundigte mich, wie sie mit ihm verblieben sei. »Verblieben? Gar nicht,« sagte sie. – »Wieso gar nicht? wie hat er denn unser Vorhaben aufgenommen?« Sie antwortete nicht gleich; sie holte noch allerlei leere Schachteln und Kistchen herbei, mit denen sie das verlöschende Feuer nährte. Plötzlich sagte sie mit einer seltsam hohen Kopfstimme: »Wir sind nämlich seit heute Mittag um zwölf geschieden.« Dabei liefen ihr die hellen Tränen über das Gesicht, wie Bächlein, geradewegs in den Mund. Ich starrte sie groß an. Also das ist möglich, so geht es unter wirklichen Menschen zu, war mein Gedanke. »Und die Kinder?« fragte ich. – »Die hat er mir natürlich gelassen.« Ich starrte sie an und schüttelte den Kopf und wunderte mich und beneidete sie.

Der Zug der Phantome und Fiktionen

In einer schlaflosen Nacht hatte Ganna einen erlösenden Einfall. Frühmorgens schickte sie einen Boten mit einem Zettel in mein Quartier. Sie schrieb, ich solle sogleich zu ihr kommen, sie hätte mir etwas mitzuteilen, das alle Schwierigkeiten mit einem Schlag aus dem Weg räume. Und was war es? Ich traute meinen Ohren nicht: eine Ehe zu dreien. Es war ehrlich gemeint. Sie war hingerissen von der Idee. »Geh doch, Ganna,« sagte ich unmutig, »das ist doch kindisch. Wo lebst du denn? darüber läßt sich doch nicht ernsthaft debattieren.« Sie war beleidigt und befremdet. »Warum nicht?« antwortete sie, »denk an den Grafen von Gleichen.« Ausflüge in die Sagenwelt brächten uns nicht weiter, fiel ich ihr gereizt ins Wort. »Sagenwelt? Seh ich nicht ein. Man gibt ein Beispiel. Sind wir nicht moderne Menschen?« – »Wenn du darunter einen unappetitlichen Mansch von Gefühlen und eine lächerliche Situation verstehst: nein.« Erbittert hieß sie mich einen Bourgeois, dem es an Mut fehle, im Leben zu verwirklichen, was er in seinen Büchern verkünde. Ich konnte mich nicht erinnern, den Grafen von Gleichen jemals verherrlicht zu haben, aber Ganna behauptete es nun einmal.

Sie beharrte auf dem Plan. Während sie erregt auf und abstelzte, noch unfrisiert, in einer grauen Wolljacke, deren Ärmel ihr bis zu den Fingerknöcheln reichten, redete sie wie trunken in die Luft hinein: »Mit gutem Willen geht alles; jeder muß in einem solchen Fall ein Opfer bringen; weshalb soll dich die andere allein haben? Ich habe die älteren Rechte; Bettina muß ihren Egoismus unterdrücken; ist etwa nicht Platz genug im Hause?« Ich schwieg, blätterte in einem Buch und schwieg. »Laß mich doch mit ihr darüber sprechen,« fuhr sie befeuert fort, »wenn sie nicht völlig von Gott verlassen ist, muß sie es einsehen.« Sie hatte sich die Verteilung der Rollen folgendermaßen ausgedacht: Bettina würde die Repräsentation übernehmen, das entspräche ihrem Ehrgeiz, sie selbst die innere Verwaltung; bei Konflikten aber, es würde ja nicht zu Streitigkeiten kommen, sie hätte den festen Vorsatz, klug und besonnen zu sein, bei Konflikten sei es meines Amtes, den Schiedsrichter zu machen.

Ich weiß heute noch nicht, ob Ganna an das erträumte Graf von Gleichen-Idyll innerlich glaubte. Es ist auch müssig, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, da ihre Träume identisch waren mit ihrem Tun und die Abart von Phantasie, die sie besitzt, sogar auf jene Spuren von Tatsachenlogik verzichtete, die noch den verworrensten Träumen eigen ist. Ihre Traumwelt war autonom. Die Geschehnisse, in denen sie sich bewegte, waren Produkte von Wachdelirien. Täglich begann sie von neuem mit dem Wunschbild der Ehe zu dreien und setzte mir mit den ausgeklügeltesten Argumenten seine Vorzüge auseinander. In meiner ungeduldigen Abwehr erblickte sie die Wirkung der boshaften Einflüsterungen Bettinas. Als ob ich Bettina eine Silbe davon gesagt, als hätte ich mich nicht in den Erdboden hinein geschämt, wenn Bettina es erfahren hätte; als ob ich nicht fortwährend die übermenschlichsten Anstrengungen gemacht hätte, vor Bettina zu verhehlen, was Ganna mir zumutete, um die Frau, mit der ich gelebt hatte, nicht an die Frau zu verraten, mit der ich leben wollte.

Als nun Ganna die Aussichtslosigkeit ihrer Mühen erkannte, stellte sie die Sache so dar als ob man ihre edelsten Absichten hintertrieben habe. Sie folgerte: wenn die beiden den Frieden verweigern, zu dem sie, Ganna, selbstlos die Hand geboten, müssen sie schwerwiegende Gründe dafür haben, Gründe, die auf Gannas Schädigung, Gannas Ruin abzielen. Was lag näher als der Verdacht, daß Bettina Merck nichts im Sinn hatte als sich in den Besitz des Hauses zu setzen? Das hatte sie ja schon im Auge gehabt, als sie sich in die Verschwörung mit der Klothilde Haar einließ. Ich, grenzenlos gefügig, machte den Helfershelfer, denn die abgefeimte Circe wickelte mich ja um den Finger. Dann wird Bettina die alleinige Herrin spielen, wird ein fürstliches Leben führen und die besiegte Ganna ins Ausgeding schicken. Ja, so ist es, so wird es sein, wenn sie nicht beizeiten ihre Vorkehrungen trifft. Mit solcher Schärfe sah Ganna das Bild der in ihrem, im Alexander Herzogschen Hause triumphierend waltenden Bettina vor sich, daß sie manchmal laut vor sich hinstöhnte und mit den Zähnen knirschte. Und als sie dann noch vernahm, daß Bettina von ihrem Mann in aller Stille geschieden worden war, machte sie dies nicht etwa stutzig als befolgbares Beispiel, sondern sie sah nur die Bestätigung ihres schwarzen Argwohns darin, und es wurde ihr angst und bang. Die Wirklichkeit war ihr unter den Füßen weggeglitten, doch sie bedurfte ihrer auch nicht mehr: alles war so, wie sie es weltabgewendet imaginierte. Das Haus war in Gefahr, das Haus! ein Begriff, der allmählich in ihrem Geist anschwoll wie alle Trauminhalte, Begriff des Habens, Begriff des Wurzelns, steinerne Sicherheit.

Demgemäß wuchs die Bereitschaft, die sie an den Tag gelegt, um ihren teuersten Besitz, Mann und Haus, mit der Bluts- und Erbfeindin zu teilen, in ihren Augen ins Heroische, und wenn sie sich vergegenwärtigte, wie schnöd ihr Anerbieten zurückgewiesen worden war, hatte sie ein Edelmutsattest für alle Zukunft.

Und alles wandelte sich in Gannas Geist nach Gannas Einbildung. Es leidet keinen Zweifel: sie ist das Muster einer Gattin gewesen, die Verträglichkeit, die Pünktlichkeit, die Ordnungsliebe in Person. Umkränzt von solchen Tugenden ist sie bei mir verleumdet worden, und die »Feinde« haben gewühlt und gewühlt bis ich nicht mehr anders gekonnt als mich von ihr loszusagen. Jene selben Leute, die die Klothilde Haar besoldet haben. Jene selben Leute, die es zu verhindern gewußt, daß sie mich mittels der Wiese zum Millionär machte. Des ferneren entsteht in Ganna die Überzeugung, daß wir neunzehn Jahre lang wie die Turteltauben gelebt haben, daß kein Wölkchen jemals den Himmel unseres Eheglücks getrübt hat. Diese Überzeugung erstarrt in ihr zur Legende ähnlich wie manche historische Vorgänge in den Lesebüchern.

Da aber aus diesem Turteltaubendasein augenscheinlich etwas entstanden ist, was Ganna nicht verschuldet hat, so muß es andere Schuldige geben. Daher Schuldaufgrabung, Schulderörterung, Schulduntersuchung ohne Ende. Die Phantome und Fiktionen wachsen aus der Luft. Verjährte Worte, verjährte Taten werden gewaltsam umgedeutet, Meinungen gefälscht, Aussagen verdreht und weit auseinanderliegende Sachverhalte in unlauteren Zusammenhang gebracht. Ein Heer von Mißgünstigen, Böswilligen, Lügnern und Ränkeschmieden erscheint auf dem Hintergrund der Jahrzehnte und von ihnen umzingelt eine Ganna, die wie ein Seraph im goldenen Äther ihres Alexander Schicksalshüterin gewesen ist.

Dies wurde Tag für Tag vor mir aufgerollt, und Tag für Tag sollte ich Rechenschaft ablegen, Nachweise liefern und Zeugnisse ausstellen. Ich frage mich, warum ich nicht einfach meiner Wege gegangen bin. Warum, warum habe ich nicht mein Bündel geschnürt und bin auf und davon? Schwer zu erklären. Ich glaube, in meiner Veranlagung ist da etwas in Unordnung. Ich bin nicht imstande, seelische Verwüstung hinter mir zu lassen. Nicht aus Weichheit noch aus Mitleid. Ich besitze ja eine ziemliche Portion Selbstsucht. Ich bin kein leichtherziger Gewährer, kein besonders eiliger Helfer, kein guter Schenker, und ehe ich mich außerhalb meiner Arbeit zu einem Akt der Hingebung entschließe, habe ich alle Stufen der Vorsicht und Trägheit zu übersteigen. Es ist da etwas anderes. Nicht ein einzelnes losgelöst, in Verschichtungen liegt es vor. Zunächst die Empfindung von der Gleichzeitigkeit des Geschehens, die ihren Sitz in den Nerven hat. Der hohe Grad seelischer Erschütterbarkeit, der damit verbunden ist, bewirkt zwangsläufig, daß ich mich in die von mir körperlich getrennte Zeit, in die lebendig werdenden Räume und in die Menschen versetzen muß, die sich in meinem Schicksals- und Phantasiekreis befinden. Und so versetzen, daß ich sie sehe, höre, schmecke, taste, rieche, was mich wieder zu umfassenden Schutzmaßregeln nötigt, die mich mehr Anstrengung und mehr Gedanken kosten als mir durch alle realen Schwierigkeiten aufgebürdet würden. So gleiche ich bisweilen aufs Verzweifeltste einem Chirurgen, der sich nicht zur Operation entschließen kann und unsinnigerweise, statt wenigstens den Patienten zu betäuben, selber Morphium nimmt.

Aber das zweite dann: es wohnte mir doch ein sittliches Gesetz in der Brust, eine höhere Stimme, die nicht zum Schweigen zu bringen war. Da war diese Frau; mochte sie unzulänglich sein oder nicht, mochte sie sich ihr Los selber bereitet haben oder nicht, mochte ich, mochte Bettina, mochte die Welt ihr Tun und Wesen billigen oder nicht: ich war ihr doch verhaftet; ich hatte mich ihr doch einst zugeschworen; ich war verantwortlich für sie trotz allem Andersreden; ich hatte drei Kinder mit ihr gezeugt; sie war ein haltloses, wegloses, zielloses Weib und ohne mich verloren. Konnte ich da mir nichts, dir nichts desertieren? mich aus dem Staub machen und ein neues Leben anfangen (neues Leben, gedankenlosestes aller Worte), bevor ich im alten gründlich aufgeräumt hatte? Aufgeräumt sogar mit dem Wirrsal der Phantome und Fiktionen? Es schien mir möglich. Ich wußte damals noch nicht, daß sie ihr furchtbares Eigenleben und Eigenwachstum hatten, die Phantome und Fiktionen, daß sie allmählich wie der Flaschengeist im arabischen Märchen den ganzen Himmel überziehen würden. Ich konnte nicht los. Ich war nicht kaltblütig genug, nicht brutal genug. Ich wollte mir ein Stück von Ganna retten. Eine Erinnerung, eine dankbare Regung, ein Gefühl der Achtung.

Was es mit der Freude auf sich hat

Da nun Woche auf Woche verging und trotz aller herzabschnürenden Mühe, die ich mir gab, eine gütliche Einigung immer weiter in die Ferne rückte, beschloß ich, die Fäden kurzerhand zu zerreißen und nach Ebenweiler zu fahren, wo Bettina mich täglich erwartete. Ich verpacke Bücher, Manuskripte, Kleider, Wäsche, Ganna sieht mir verstört zu, die Kinder stellen kleinlaute Fragen. Dann kommt die Stunde, da ich mich von ihnen verabschiede; Ganna begleitet mich an die Bahn. Was soll man nur sagen, um die Pein dieses Auseinandergehens zu kürzen, zu mildern? Ganna redet, redet, die Kehle voll Mehl, ihre Worte verhaspeln sich, sie hat Angst, ich könne mich erkälten, Angst vor einem Eisenbahnunglück, es ist alles so unsicher jetzt, sie erteilt mir diätetische Ratschläge, sie redet bis zu der Sekunde, da der Zug abfährt. Ich schaue an ihr vorbei. Sie läuft angestrengt noch ein Stück neben dem fahrenden Waggon her und winkt. Das Bild verließ mich nicht. In ihm war etwas von Gannas ganzem Wesen enthalten.

Siebzehn Stunden im Zug. In jenen Tagen war alle Kommunikation gestört. Der Wagen ist schmutzig; er stößt und scheppert wie eine Postkutsche, an Stelle der Fensterscheiben sind Bretter angebracht, durchs Dach regnet es, die Lampen sind zerbrochen. Ich schaue in die Dämmerung hinaus, Ganna läuft neben dem Zug her und winkt. Und in der Nacht steht sie vor der Tür des Abteils und bettelt um Einlaß, die Kehle voll Mehl.

Dann Ebenweiler in leuchtendem Schnee. Die vertraute Landschaft hat ein neues Gesicht. Ihre Lieblichkeit ist Majestät geworden. Bettina empfängt mich am Bahnhof, die Wangen von der Kälte gerötet, die grüngrauen Augen von unsäglichem Glück strahlend. Wir fahren im Schlitten zu dem im Schnee begrabenen Haus. Die Welt ist weihnachtlich gestimmt.

Ich hatte nicht geahnt, daß der Frieden eines Haushalts und seine feste Führung und Regel etwas so Berauschendes haben können. Ich hatte es nie erlebt. Mit diesem Winter begann eine langwährende Periode intensiver Arbeit für mich, trotz all des Schreckensvollen, von dem ich zu berichten haben werde. Ich war in gewisser Weise behütet. Einmal durch die Landschaft, die mir wie ein bescheidener Genius erschien, immer stillend, nie aufrührend, vor allem aber durch Bettinas umsichtige, hegende, geräuschlose und anscheinend völlig mühelose Obsorge um mein Wohl und meine Ruhe. Ich fühlte mich bei ihr und mit ihr so geborgen wie im Innern des Bergs, an dessen Flanke wir hausten. Weltzerstörung und Gannakrieg lagen ein Jahrtausend zurück. In der Glücksverwirrung der ersten Monate dünkte mir, daß wir zu jenem Paarwesen verschmolzen, von dem ich so lange geträumt hatte als von einer hohen Verwirklichung.

Bettinas beide Töchterchen verhielten sich anfangs dem neuen Familienoberhaupt gegenüber ein wenig scheu. Wie Kinder über uns Erwachsene urteilen, gehört zum Unerforschlichsten, was es gibt. Halb mißtrauisch, halb reserviert warteten sie die weitere Gestaltung der Dinge ab. Mein unersättliches Ruhebedürfnis, meine Empfindlichkeit gegen Stimmenlärm und alle Störung war für sie dasselbe, was Maulkorb und Leine für spielende junge Hunde sind. Sie hätten es mir nachtragen können, daß ich immerfort beflissen war, ihren Übermut zu zügeln. Sie haben es mir nicht nachgetragen. Auch nahmen sie mich verhältnismäßig ernst, jedenfalls war ich der Gegenstand seriöser Gespräche, die sie abends vor dem Einschlafen führten.

Es war eine schmerzliche Erfahrung für mich: ungeachtet der Wandlung meines äußern Lebens ins Helle kam ich nicht zur Freude. Vielmehr die Freude konnte nicht an mich heran. Wenn sie sich meldete, ließ ich sie gleichsam wissen, ich sei nicht zu sprechen. Mochte sie noch so lang vor meiner Türe stehen, ich machte die Türe nicht auf. Es war dies eine Enttäuschung für Bettina, die erste in unserm Zusammenleben, und sie wurde von Monat zu Monat größer. Bettina mußte sich natürlich fragen, wozu sie gut sei, da sie mich nicht von der Erde heben konnte, Erdmann und Brunnengräber, der ich in ihren Augen war. Sie hatte gehofft, daß ich ein wenig mit ihr fliegen würde. Wie aber soll man mit einem fliegen, der alles tut, um sich schwerer, nichts, um sich leichter zu machen? Sie hatte sich gedacht, sie könnte meine Lampe sein, doch wie soll man Lampe sein, wenn der, dem sie leuchten soll, sie hinterrücks ausbläst, weil er sich im Dunkeln wohler fühlt? Es war ergreifend zu beobachten: wenn ich aufgeräumt war, wenn ich einmal lachte, dann war ihr der Tag gerettet; sie brauchte mich nur lächeln zu sehen, da hüpfte ihr schon das Herz vor Vergnügen.

Doch immer seltener vermochte ich zu lachen und zu lächeln. Ein Glück, daß sich Bettina selber so viel Stoff zum Lachen lieferte, obschon der Vorrat manchmal auszugehen drohte. Inmitten einer Gemeinschaft, in der alle um meine Gunst warben und um freundliche Blicke baten, wurde ich zum verschlossen brütenden Einsiedler. Und das war die einzige Gefahr, die Bettina für sich und ihr Leben zu fürchten hatte, das Lichtlose, das Himmellose, Kette von Tagen ohne Lachen und Lächeln. Da war ihr auch die Geige nichts mehr, die Musik nichts mehr, da fiel ihr keine Melodie mehr ein, da verstummte die ganze Welt. In einer gelösten Stunde bekannte sie es mir. Nicht ohne Zagen. Ihre klaren Augen verbargen mir nicht ihre Angst. Daß ich des Bekenntnisses erst bedurfte, war ein Teil meiner ungeheuerlichen Torheit. Ich sah, worum es ging. Ich begriff, daß ich Bettina nicht verdorren lassen durfte. Daß ich um jeden erschwinglichen Preis zur Freude gelangen mußte. Und da es Ganna war, die zwischen mir und der Freude stand, die bewirkte, daß ich nicht mehr lachen und lächeln konnte, so mußte Ganna dazu vermocht werden, mir meine Lebens- und Menschenheiterkeit zurückzugeben, meine Sorglosigkeit, meinen unverdrossenen Mut, um jeden Preis, sonst war alles vertan, sonst mußte ich auch Bettina verlieren.

Aber wenn man auf einem Pulverfaß lebt, mit einer glimmenden Zündschnur am Spund, kann man nicht lachen und lächeln.


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