Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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Ohne Frage wirkte die Atmosphäre des Hauses wohltuend auf die Frau. Die Stille und Entlegenheit, die gleichmäßig-schonungsvolle Behandlung, die heiteren, blumengeschmückten Räume, – es war Marie, die täglich für frische Blumen sorgte, – das alles trug nicht nur zur Aufhellung ihres Gemüts bei, es veränderte auch die starre Innenrichtung ihrer Gedanken. Sie hatte seit Jahren keinen Umgang mit Frauen gehabt. Außer mit ihrer Tochter hatte sie mit keinem weiblichen Wesen gesprochen. Die Sanftheit und geschulte Rücksicht der jungen Assistentin stimmte sie weich; mit Ungeduld wartete sie jeden Tag auf ihren Besuch und ließ während ihrer Gegenwart nicht die Augen von ihr. Dieselbe Anhänglichkeit, noch um einen Grad scheuer, bezeigte sie gegen Marie, seit diese sich ein paarmal freundlich mit ihr unterhalten hatte. Es war eine Art Schwärmerei; wenn sie sie nur von ferne sah, strahlte sie übers ganze Gesicht. Wie sie nach und nach darauf kam, daß Schwester Else unter dem Druck einer dauernden Sorge lebte und unaufhörlich mit einem einzigen Gedanken beschäftigt war, der ein bestimmtes Willensziel hatte, konnte später nicht mehr ergründet werden; Kerkhoven, als er einmal darüber sprach, neigte zu der Ansicht, daß die mediale Gabe schon bei den ersten Begegnungen wirksam gewesen sei. Eines Tages saßen Marie und Schwester Else im Garten und erörterten den Inhalt einer Broschüre, die vor ihnen auf dem Tisch lag. Sie war von einem jungen Juristen verfaßt und entwickelte trocken, aber gewissenhaft, Zug für Zug den Verlauf des Prozesses Imst-Mallery. In gewissen Zeitabständen meldete sich immer wieder eine Stimme, die die Gerechtigkeit des Urteils in Zweifel zog wie wenn das Gewissen des Landes in heimlicher Gärung wäre. Auch dieser Autor gelangte zu dem Schluß, daß ein Fehlspruch vorliege, mußte aber zugleich einräumen, daß die für ein Wiederaufnahmeverfahren unerläßlichen neuen Tatsachen nicht zu beschaffen seien. Else Wys-Wiggers, durch die Lektüre des Heftes in jene leidenschaftliche Erregung versetzt, die jedes Aufrühren des Themas bei ihr zur Folge hatte, las Marie die letzten resignierten Worte der Druckschrift vor und warf dann das Heft mit einer hoffnungslosen Gebärde auf den Tisch. In dem Augenblick kam die Emilie Thirriot mit ihrem watschelnden Gang daher, zögerte ein wenig und fragte schüchtern, ob sie sich zu den beiden Frauen setzen dürfe. Marie nickte freundlich. Dabei fiel ihr schon der Ausdruck in den Augen der Frau auf, mit dem sie die Assistentin anstarrte. Ihr Gesicht hatte auf einmal etwas Verwaschenes und Leeres, so als ob jemand mit einem Pinsel darüber gefahren wäre und die charakteristischen Formen ausgewischt hätte; im Gegensatz hiezu war in den bernsteingelben Augen ein dumpfes, tiefes Licht, ein saugender Glanz, etwas beängstigend Fremdes von Neugier und Wissen, aber jenseits der Selbstkontrolle. Schwester Else sprang ungestüm auf und lief ins Haus, Marie sah ihr mit einem traurigen Blick nach, die Anwesenheit der Thirriot hatte sie ganz vergessen, da sagte diese, wie aus einem Traum erwachend, mit seltsamen Stammeln: »Ich weiß jetzt... ich seh jetzt... eine Frau... ein Mann... im Zuchthaus... ich sehe...« Marie zuckte zusammen und schaute sie groß an. Doch da veränderten sich die Züge der Frau wieder und mit gleichfalls veränderter Stimme fuhr sie fort: »Das Schönste an Ihren Haaren, Frau Professor, ist der braune Schimmer, wie bei den ersten Kastanien im Herbst. Erinnern Sie sich wie schön die schimmern?« Marie lächelte wie zu der ungeschickten Schmeichelei eines Kindes; sie erhob sich und ging, von widerstreitenden Gefühlen bedrängt. Die Broschüre ließ sie auf dem Tisch liegen. Nach einer Weile fiel der Blick der Frau Thirriot darauf, sie griff nach dem Heft, schlug es auf und begann zu lesen. Nach Art ungebildeter Leute bewegte sie die Lippen beim Lesen. Ein Beobachter hätte nicht schlüssig werden können, ob das Gelesene irgendwelchen Eindruck auf sie machte. Es schien sie eher zu ermüden als zu fesseln. Aber in Marie hallten die Worte vom Zuchthaus nach, die die Wirre zu ihr gesprochen hatte.


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