Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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20

Seltsame Irrfahrten; Jagd nach einem Schatten. Was wollte er noch ? Daß ihm die Mutter sagte: er ist vor dir bis ans Ende der Welt geflohen? Was außerdem voraussetzte, daß sie wußte, wie es um ihn stand. Wohin sollte das alles führen? Es war wie seelischer Starrkrampf. Noch einen Schritt weiter, und er konnte das Kreuz über sich machen. Aber vor diesem Schritt bewahrte ihn sein guter Genius.

Er hatte wenig geschlafen; schon um sechs Uhr morgens verließ er das Haus. Die altertümlichen Gassen lagen noch im Dunst des Sonnenaufgangs. Ziellos schlenderte er herum. An einen Besuch ließ sich natürlich noch nicht denken. Er wollte zunächst das Haus ausfindig machen. Er fragte ein paar Passanten. Alsbald stand er vor einem schönen Gebäude; er begab sich auf die gegenüberliegende Straßenseite und blickte versonnen auf die schmale Fassade. Die Fenster waren mit steinernen Blumengewinden verziert.

Er mochte zehn Minuten so gestanden sein, als sich drüben die Haustür öffnete und eine Frau heraustrat, schwarz gekleidet, einen schwarzen Schal um den Kopf, in geschult straffer Haltung, das Gesicht lang und blaß, die Augen gesenkt. Bei ihrem Anblick wich er unwillkürlich einen Schritt zurück, obgleich ihn die Breite der Straße von ihr trennte. Sie war es ohne Zweifel, die er gesucht. In der Gestalt, etwas Undefinierbares von Ausdruck, Gang, Geberde, war der Sohn enthalten; die Ähnlichkeit war unmöglich zu verkennen. Es hätte die ältere Schwester sein können. Ohne aufzuschauen, ohne sich umzuschauen eilte sie die Gasse entlang und die Höhe gegen den St. Lucius-Dom hinauf. Er folgte ihr in einer Entfernung von etwa zwanzig Schritten. Einen Augenblick hob sich die dunkle Figur wie schwebend gegen den metallisch glänzenden Himmel ab, dann verschwand sie durch ein Seitenportal der Kirche.

Er zögerte. Er überlegte, ob er warten, ob er ihr weiterfolgen, ob er sie anreden solle. Unter welchem Vorwand? Ernstlich erwogen gab es keinen einzigen, den sie gelten lassen würde, wenn er sie und ihr gegenwärtiges Leben richtig beurteilte. Indessen trieb es ihn unwiderstehlich in ihre Nähe. Er betrat die Kirche durch denselben Eingang wie sie. Der jähe Wechsel von Licht zu Dunkelheit verringerte seine Sehkraft. Nur die brennenden Kerzen auf dem Altar zeigten ihm den Weg. Er blieb stehen bis sich die Augen an die Dämmerung gewöhnt hatten, dann schritt er langsam gegen den Altar hin. Auf den Stufen davor kniete Sophia. So hingenommen, ja hinversunken, daß er sein Zuschauen wie sträfliche Neugier empfand. Wenn man von einem verkörperten Gebet sprechen könnte, das war es. Zwiesprache mit einem unbekannten Wesen im Unendlichen. In der Nackenbeuge, der Senkung der Schultern, der Gelöstheit der Glieder, dem Fall des Kopftuchs sogar, drückte sich etwas aus, was Kerkhoven wie die Kunde aus einer andern Welt berührte. Es lenkte sein ganzes Denken und Fühlen mit einem Schlag in eine neue Richtung. Wenn es das gibt, dachte er bestürzt, dann weiß ich vom Leben nicht mehr als ein Elementarschüler. Gewiß, viele knien und beten, doch im Vergleich zu dieser waren sie hohle Schemen. Diese war in einem Sinne wirklich wie nur die Tat und der Leib wirklich sind. Ohne Frage war die an Zerrüttung grenzende Seelenverfassung Kerkhovens die Ursache, daß er in weit höherem Maße als je zuvor für ein Erlebnis empfänglich war, das außerhalb seiner Wirkungssphäre, seines Denkkreises, ja seines Begreifens lag. Er konnte nur hinahnen, es ahnend in Zukünftiges einbeziehen. Er stand gleichsam an der untersten Windung einer Spirale, deren Aufwärtsbewegung bis ins Unsichtbare hinauf ihn fesselte wie ein architektonischer Traum.

Als er sich von der Knieenden abwandte und auf Fußspitzen die Kirche verließ, trat er an der Schwelle in den Sonnenschein wie in ein lichteres, größeres Dasein. Der aufreizende Schatten war entwichen. Die knieende Mutter hatte ihn entsühnt. Auch dies Gefühl war für Kerkhoven neu: daß er Absolution gewährt hatte. Gnadenspende – Gnadenempfang. Er lächelte. Es war das erstemal seit langem, daß er wieder lächelte.


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