Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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Zwei Gründe hatten sie bewogen, den weltverlorenen Ort als Aufenthalt zu wählen. Kindheitserinnerungen verbanden sie mit ihm und der Landschaft. Die Großeltern väterlicherseits hatten da gelebt; sie war oft bei ihnen zu Besuch gewesen. Das alte Fachwerkhaus unfern der Stadtmauer stand noch wie damals. Jetzt wohnten fremde Leute drin. Es tat wohl, mitten in diesem zerwühlten, aufgepeitschten Reich und Volk auf einem Stück friedlicher deutscher Erde zu weilen, wo frühe Zeit von später Zeit umschleiert war wie eine Ruine von Efeu.

Was sie außerdem hergelockt hatte, war der Umstand, daß ihr alter Lehrer Kaspar Neidhardt seit zwanzig Jahren hier lebte. Er war ein Freund ihres Großvaters gewesen; nach seiner Pensionierung hatte sich der Reichsgerichtsrat Martersteig nach Dürrwangen, das seine Heimat war, zurückgezogen und hatte Neidhardt mitgenommen und ihm ein Häuschen geschenkt, damit er sich für den Rest seines Lebens seinen philosophischen und musikalischen Neigungen widmen könne. Marie hatte dem Mann viel zu verdanken. Er war der Bildner ihrer Jugend gewesen, ein Humanist von der Art, die jetzt ausgestorben ist. Bis in das Jahr 1925 war sie mit ihm in Briefwechsel gestanden, danach war die Beziehung abgebrochen, sie hatte ihn nahezu vergessen, erst in den allerletzten Tagen in Berlin hatte sie sich seiner wie eines vorwurfsvollen Mahners erinnert. Da hatte sie sich entschlossen, ihn aufzusuchen.

Es war zu spät. Er lebte zwar noch, aber dieses Leben war ein verlöschendes Flämmchen. Kaum daß er sie erkannte. Kaum daß er noch wußte, wer sie war. Seine Fragen waren kindisch, sein Benehmen verlegen. Den größten Teil des Tages kramte er mit seniler Geschäftigkeit in vergilbten Papieren oder saß stundenlang mit halbgeschlossenen Augen am Bett seiner Enkelin. Er war einmal ein berühmter Organist gewesen; es schien als habe die Last der Jahre auch die Musik in ihm begraben; viele Wochen hindurch berührte er das Instrument nicht, aber eines Tages konnte es geschehen, daß er an zwei Stöcken in die gegenüberliegende Kirche humpelte, sich in den Chor hinauftragen ließ und, als wäre er nicht vierundsiebzig, sondern fünfzig, mit einem Feuer und einer Kraft zu spielen begann, daß die wenigen Zuhörer, die sich dann immer einfanden, nachher davon sprachen wie von einem Ereignis. Man hatte es Marie erzählt. Sie wünschte ihn zu hören. Sie erinnerte sich eines gewaltigen Kindheitseindrucks: wie er an einem Charfreitag in der Schloßkirche gespielt und sie das Gefühl gehabt hatte, sie müsse sterben: wenn sie weiterlebte, begehe sie eine Todsünde. Die Leute in Dürrwangen berichteten, im vergangenen Jahr habe er nur zweimal gespielt; jede Aufforderung oder Bitte finde ihn taub, man müsse warten, bis der Geist über ihn käme. Es fügte sich, daß Marie ihn hören durfte, aber da hatte ein anderes Erlebnis derart von ihr Besitz ergriffen, daß ihr die Musik, sogar die heiligste, wie unerlaubte Schwelgerei erschien.


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