Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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84

Am Abend, nachdem Bettina gute Nacht gesagt hatte und in ihr Schlafzimmer gegangen war, begaben sich Kerkhoven und Alexander Herzog in die Bibliothek. Alexander drehte die elektrischen Kerzen des Mittelleuchters ab und ließ nur die beiden Stehlampen brennen. Er setzte sich auf die eine Seite des großen, mit Büchern bedeckten Lesetischs, Kerkhoven auf die andere. »Morgen ist meine Zeit um,« begann Kerkhoven das Gespräch, »ich muß wieder heim, bin ohnehin sträflich lang fortgeblieben.« – »Schade«, sagte Alexander Herzog, »drängt es denn so? Sie werden mir fehlen.« – »Das rechne ich mir an,« entgegnete Kerkhoven lächelnd, »ich kann ruhig das gleiche sagen. Und hinzufügen, daß wir uns bestimmt bald wiedersehen werden.« – »Die Erwartung teile ich nicht ganz. Ich bin ein Höhlenbär.« – »Das sind Sie. Das weiß ich. Dennoch werden Sie in fünf bis sechs Wochen zu mir kommen.« – Herzog blickte scheu empor. »Ist das eine Einladung oder ein Befehl?« – »Beides. Ich habe nämlich eine Aufgabe für Sie. Und da Sie Herr Ihrer Zeit sind und ich nicht, werden Sie sich wohl oder übel zu einem Gegenbesuch bequemen müssen.« – »Eine Aufgabe? Machen Sie sich über mich lustig?« – »Darf ich einen Augenblick so zu Ihnen sprechen als wenn ich die Auszeichnung hätte, Ihr Freund zu sein?« – »Wozu die feierliche Frage? Sie beschämen mich.« – »Ist das wirklich Ihr Gefühl? warum eröffnen Sie sich mir dann nicht freimütig? warum können Sie sich nicht entschließen, mir zu sagen, was Ihnen auf der Seele lastet? Sie ringen ja immerfort mit dem Vorsatz. Warum verstecken Sie sich?« – Alexander Herzog schwieg finster. Er blätterte mechanisch in einem Buch. Nach einer Weile sagte er: »Ich bin ein alter Mann, Professor Kerkhoven. Ich wills nicht wahr haben, aber ich bins. Beichten, Mensch gegen Mensch, Aug in Aug, kann meine Sache nicht mehr sein. Dazu spür ich zu deutlich, zu schmerzlich die Unveränderbarkeit alles Geschehens und daß man aus dem eigenen Charakter nicht heraus kann. Die Erleichterung, die man sich einredet, wenn man einem Andern etwas von dem Unrat und dem Grauen zu schleppen gibt, das sich mit der Zeit in einem angehäuft hat... ich bitte Sie. Das kann mir nicht helfen.« – Kerkhoven schüttelte den Kopf. »Erstens sind Sie nichts weniger als ein alter Mann. Sie sehen aus wie fünfundvierzig. Kein graues Haar. Zum Erstaunen. Es ist eine Pigmentzauberei. Und dann, was hat das Alter mit dem Vertrauen zu schaffen, das man unter so gebieterischen Umständen einem... nochmals mit allem Respektsvorbehalt... einem Freund schuldig ist?« – »Sie sind sehr gütig, Professor Kerkhoven. Aber sehen Sie, es ist so fürchterlich schwer. Wenn mein Zimmer voll Rauch und Qualm ist, kann ich die Fenster aufmachen und den Stank abziehen lassen. Wenn aber das ganze Leben davon bedeckt ist, Vergangenheit und Zukunft, das Herz, der Geist, die Phantasie, und wenn man sich außerdem noch sagen muß: du hast nichts dagegen getan, hast keine Vorkehrungen getroffen, hast ruhig zugesehen, wie alles versaut ist, hast deine Seele, statt sie zu wahren, statt ihrer zu achten, dem Moloch Arbeit in den Rachen geworfen, solange in den Rachen geworfen, bis sie wie das Zeug da auf dem Tisch zu Makulatur geworden ist... was versprechen Sie sich da noch vom Fensteraufmachen?« – Wieder schüttelte Kerkhoven den Kopf. »Was Sie über Ihre Arbeit sagen, ist eine psychotische Verirrung. Widerspräche ich Ihnen nicht, Sie wären mit Recht ungehalten. Lieber, Verehrter, Sie sind doch heute ein Mann, der... aber wozu Worte verlieren? Darüber kann Sie Ihr Bewußtsein nicht täuschen. Was man wahrhaft wirkt, strömt zu einem selbst zurück. Das Andere... da sehe ich nicht so klar. Aber vielleicht ist auch darin Ihre Blickeinstellung anormal und liefert Ihnen Zerrbilder.« – »Nein, lieber Freund, nein. Nein. Es ist ja nicht das Auge allein. Es ist der ganze Sinnes- und Empfindungsapparat. Mag sein, daß ich sinnes- und empfindungskrank bin, mag sein. Aber wodurch es bewirkt worden ist, das ist eine schreckliche Realität.«

Kerkhoven ließ ein paar Sekunden verstreichen, dann fragte er leise: »Sagen Sie mir, wie lange haben Sie mit jener Frau gelebt?« – »Fast neunzehn Jahre.« – »Und hatten drei Kinder mit ihr?« – »Ja. Einen Sohn und zwei Töchter.« – »Und die Kinder sind erwachsen?« – »Der älteste ist dreißig, die jüngste sechzehn.« – »Und das Verhältnis zu den Kindern ist gut?« – »Ja. Im ganzen gut. Die Jüngste ist mir besonders ans Herz gewachsen.« – »Und die älteren? Haben Sie eine moralische Stütze an ihnen?« – »Das nicht. Sie werden hin- und hergerissen zwischen Vater und Mutter. Seit ihrer frühen Kindheit. Die Mutter ist ein Vulkan an Energie und etwas Unnennbares an Haß, Glücklosigkeit, Maßlosigkeit. Gewissermaßen mußte ich die Kinder opfern. Es hieß damals: ich oder sie. In ihrem Innern haben sie es wohl nie verwunden.« – »Warum haben Sie die Frau geheiratet?« – »Mein Gott... warum heiratet man... Ich war achtundzwanzig. Hatte kein Heim, keine Zuflucht...« – »War es Liebe?« – »Ich weiß nicht... O ja, es war Liebe. Anfangs bestimmt...« – »Hm. Man müßte es wissen,« sprach Kerkhoven vor sich hin; »hier kommen wir zum Wesentlichen... Welche Art Liebe? Man müßte bis an die Wurzel gehen. Haben Sie sich je bemüht, es zu ergründen? Den Verlauf, den Stufengang, die sozialen Bedingungen, den Grad von Freiwilligkeit... es müßte nachgeprüft werden... es würde vieles mit einem Schlag aufhellen...« Er hatte sich erhoben und ging, die Hände auf dem Rücken, mit dumpfen, regelmäßigen Schritten auf und ab. Alexander Herzogs Augen verfolgten ihn unruhig und erregt.


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