Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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Man muß für jeden Fall vorbereitet sein, überlegte Kerkhoven. Mit Selbstuntersuchung kam man nicht sehr weit, das wußte er. Dem Arzt ist das eigene Innere nicht zugänglich ; er kann höchstens experimentieren, sehen kann er nichts. Einen Kollegen zu Rate zu ziehen hätte nur zu lästigen Erörterungen geführt und zur Anwendung von Methoden, an die er nicht mehr glaubte. Er ließ sich nicht davon einlullen, daß die verräterischen Symptome sich in den nächsten Tagen wieder »verspurlosten«, wie er es zu nennen pflegte. Der Körper macht es oft wie ein falscher Freund; wenn er einem hinterrücks geschadet hat, tut er doppelt zutraulich und treu; dann muß man besonders auf der Hut vor ihm sein.

Mehrere Blutproben, die er in gebotenen Fristen vornahm, sorgfältige Blutdruckmessungen, die Registrierung wiederkehrender Erschöpfungszustände, Feststellung von Schwellenbildungen der Lymphdrüsen zeigten der Eigendiagnose den Weg, und obwohl er von einem gewissen Zeitpunkt an ziemlich im klaren war, was sich hinter der Wand seines Leibes begab, verschmähte er es, diesem Begebnis den ihm zukommenden Namen zu verleihen. Er mußte versuchen, es auf andere Weise zu bekämpfen als auf die kenntnis- und erkenntnismäßige.

Wir aber wollen über die weitere Entwicklung dieses Prozesses vorläufig einen Schleier breiten. Wir erachten es als überflüssig, einen Joseph Kerkhoven bei jenen Tathandlungen zu verfolgen, die dazu dienen sollten, sein irdisches Gehäuse mit einem Wall von Schutzmaßregeln zu umgeben, hinter dem er unbemerkt eine abgelebte Seelenform mit einer neuen vertauschte. Manche Leser erinnern sich vielleicht an die tagelange rätselhafte Aphasie, die ihn nach dem Tod Johann Irlens befiel. Es war der Beginn seiner zweiten Existenz. Die Wehen der dritten waren weniger schmerzhaft und katastrophal, wirkten sich aber in größerer Tiefe aus. Systematisch durchzuführende Täuschung der Umwelt stellte sich als erstes Erfordernis dar; Selbstbeherrschung in jedem Wort, jedem Blick, jeder Miene; keinen Verdacht erregen, keiner Beobachtung Stoff liefern, sich niemals gehen lassen, auch während des Alleinseins nicht. Sodann war es notwendig, zu ergründen, welchen Spielraum man nach menschlichem Wissen und Ermessen noch vor sich hatte. Das lag einstweilen noch völlig im Dunklen.


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