Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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Kerkhoven und Bettina wanderten den schmalen Weg am See entlang. Er hatte den ganzen Vormittag mit Alexander verbracht und stand noch unter dem Eindruck des Beisammenseins. »Ein dunkler Mensch,« sagte er, »ein außerordentlich dunkler Mensch. In einem Grad seinen Instinkten ausgeliefert, wie ich es noch selten gesehen habe. Rechenschaftsablegung, Gewissenserforschung, davon ist er voll, dazu treibt es ihn ständig; das ist das eine; andrerseits haben alle seine Handlungen die unbewußte, die Urtendenz, Entscheidungen hinauszuziehen und Entschlüsse zu verhindern. Aus diesem Zirkel kommt er nicht heraus.« – »Damit haben Sie ihn richtig charakterisiert,« gab Bettina bedrückt zu, »natürlich darf man die Leistung nicht vergessen, die dahinter steht. Man vergißt sie leider oft. Man, das heißt ich. Einen solchen Menschen kann man vielleicht nur aus der Distanz richtig einschätzen.« – »Ganz bestimmt. Es verhält sich damit wie mit den Bergmassiven, die auch nur aus der Entfernung in ihrer Totalität erfaßt werden können, wie zum Beispiel bei den erdmagnetischen Messungen klar wird. Zweifellos ist er so ein Massiv. Wuchtig und weitläufig; und schwer zugänglich. Leute wie er sollten keinen Anhang haben. Nicht Weib noch Kind. Sie negieren durch ihr Dasein die sogenannte Heiligkeit der Familie. Doch muß ich Ihnen gestehen, er gefällt mir. Dummer Ausdruck: gefällt mir. Es ist viel mehr. Es hat gar nichts mit dem zu tun, was Sie die Leistung nennen. Selbstverständlich... die auch... man ist ja kein Barbar... aber er leuchtet mir unmittelbar ein, der Mann. Ich möchte sogar sagen, Sie werden es nicht mißverstehen, er bewegt mich. Ich hätte nicht gedacht, daß ich... in meinen Jahren... manchmal stimmt er einen direkt zärtlich...« Er lachte. – »Es freut mich unendlich, was Sie da sagen,« antwortete Bettina, »und wenn ich ehrlich sein soll, ich habe es nicht anders erwartet. Das alles hab ich schon gewußt und gefühlt, als ich mich Ihnen aufs Geratewohl an den Hals warf. Sie verzeihen, aber so wars doch.« – »Es ist noch nicht ausgemacht, wer dabei mehr gewonnen hat oder gewinnen wird,« bemerkte Kerkhoven listig und artig. – »Nach diesem Austausch chinesischer Höflichkeiten, lieber Professor, darf ich fragen, wie Sie den Fall Alexander Herzog beurteilen ?« – Er zögerte mit der Antwort. »Es ist nicht einfach, Frau Bettina. Ich will reinen Wein einschenken. Der Zusammenbruch ist viel weiter fortgeschritten und geht viel tiefer als es äußerlich den Anschein hat. Im Konnex mit dem alten organischen Leiden zeigt sich das Bild eines manisch-depressiven Zustands. Daneben laufen zyklische Stimmungsschwankungen, die mit aller schöpferischen Tätigkeit verbunden sind, ein krankhaftes Auf und Ab der Seele, periodische Schwingungen und Lähmungen. Sie brauchen nicht zu erschrecken, das allein ist nicht beängstigend. Was mir zu denken gibt, ist das andere... diese Frau, die auf Sie wie auf ihn, aber auf ihn unvergleichlich viel stärker, wie das Fallbeil auf einen aufs Brett Geschnallten wirkt; ich habe so was überhaupt noch nicht erlebt. Sie haben mir ja den historischen Hergang in den Hauptzügen erzählt, trotzdem steh ich vor einem Rätsel. Mit ihm hab ich noch nicht darüber gesprochen, mal eine Anspielung, das war alles; er weicht aus; es ist als fürchte er sich, den Gegenstand zu berühren. So tief liegt das. Ich habe den Eindruck... na, wie wenn ein Geschwür sich in die inneren Gewebe gefressen hat. Diese Gewebe bestrahlt man dann...« Er unterbrach sich. »Sagen Sie, liebe Freundin... wäre es möglich, ihn zu veranlassen... aber es könnte wohl nicht von Ihnen aus geschehen... ich müßte selbst...« – Bettina fragte mit banger Hoffnung: »Was ist es? was meinen Sie?« – »Ich denke an einen Befreiungsakt. An eine seelische Selbstbefreiung.« – »Ich verstehe nicht.« – »Wir greifen häufig zu dem Mittel der Selbstdarstellung. Nur auf ihn angewandt... auf diese Fähigkeit und Leidenschaft, sich zu identifizieren und zugleich vom Objekt zu scheiden... mit diesem Vermögen, Wahrheit über der Gemeinwahrheit zu geben, der Faktenwahrheit... mit dem unentrinnbaren Detail, verstehen Sie... wenn er das Erlebnis niederschriebe... von Anbeginn an... Zug für Zug, Jahr für Jahr...« Eine alte Bauersfrau ging mit einem Korb auf dem Kopf vorbei; sie grüßte Bettina und schielte mißtrauisch auf ihren fremdartig aussehenden Begleiter. Bettina schaute versonnen auf den See. Nach einer Weile sagte sie: »Ich glaube, es wäre ein Weg. Vielleicht die Lösung.«

Und sie gingen, ohne ein weiteres Wort zu wechseln, bis zum Parkeingang zurück. Erst da riß sich Kerkhoven aus seinen Gedanken. Er blickte in das dichte Gewühl der aus leuchtendem Moos sich erhebenden hochstämmigen Fichten und Tannen und sagte: »Wirklich herrlich; ein herrlicher Besitz.« – »Der uns morgen oder übermorgen wegversteigert werden wird,« versetzte Bettina; »vielleicht nicht ganz so schnell, aber immerhin... Besitz ist eine Übertreibung.« – »Die Frau? Ganna? auch darauf legt sie ihre Hand?« – »Worauf nicht? auf alles.« – »Dagegen kann man sich doch wehren?« – »Jaja, fragt sich nur, ob es was nützt.« – »Was tun Sie also ?« – »Ach, man reicht immer wieder Oppositionsklagen ein. Unter anderm...« – »Sie sprechen ja wie ein gewiegter Jurist.« – »Allerdings; dahin hab ichs gebracht,« gab sie bitter zurück; »was wollen Sie... corsaire... corsaire et demi...«


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