Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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Alexander schützte Kopfweh vor und ging früh zu Bett. Er lag und lag und lag und starrte gegen die Zimmerdecke. Er konnte nicht lesen. Er konnte nicht denken. Er konnte nicht schlafen. Der Gang der Stunden glich dem Traben eines hufeisenlosen Pferdes über sumpfigen Grund. Er lag und versank in ein Fluten von Bildern. Er sah Kerkhoven in einem steinernen Sarkophag, mit gekreuzten Händen wie ein mittelalterlicher Ritter, aber die Augen waren weit geöffnet und strahlten eine unendliche wissende Freundlichkeit aus. Er sah ihn auf einer finstern Straße, eine Laterne in der Hand; die Straße war bedeckt von Verwundeten und Kranken, bei jedem blieb er stehen, und jedes Gesicht, in das der Schein der Laterne fiel, belebte sich sofort, und wenn er weiterging, standen die Leute auf und folgten ihm, ein langer Zug. Oder dies, näher bei der Wirklichkeit, mehr Erinnerungsbild als Vision: da war ein etwa vierzigjähriger Mann, der keine bestimmte Krankheit hatte, er litt an fortgesetztem Erbrechen, er erbrach und erbrach als wolle er die Seele aus dem Leib speien; Kerkhoven hielt ihn fest in den Armen und sprach hilfreiche Worte zu ihm, und als der Mann endlich aufhörte zu erbrechen, deckte er ihn mit seinem eigenen Mantel zu und sagte zu den Umstehenden: »Es ist der Ekel. Er stirbt vor Ekel. Es ist der Tod von neunzehnhunderteinunddreißig.« Ähnliches hatte sich vor kurzem ereignet, Kerkhoven hatte es selbst erzählt. Plötzlich empfand Alexander eine Unruhe, die beständig zunahm. Es war als riefe ihn Kerkhoven. Und zwar nicht, weil Kerkhoven seiner bedurfte, sondern weil er, Alexander, Kerkhovens bedurfte und dieser auf eine verborgene Weise davon Kunde erhalten hatte.

Er stand auf, machte Licht und zog sich an. Seine Uhr zeigte sieben Minuten nach eins. Auf Strümpfen schlich er ins Vorzimmer und zur Tür, die in Bettinas Schlafgemach führte. Er öffnete behutsam und hörte ihre gleichmäßigen Atemzüge. Sie pflegte bei offenem Fenster zu schlafen; der Raum war vom Mondlicht hell. Er trat an das Bett. Sie schlief friedlich wie ein Kind. Der Kopf ruhte auf dem rechten Unterarm. Er betrachtete das Gesicht zärtlich und wunschlos. Dann kehrte er in sein Zimmer zurück, schlüpfte in die Schuhe, trat in den Flur, ging vorsichtig die Treppe hinunter und verließ das Haus. Der Mond war in einen dünnen Wolkenschleier gehüllt wie in Fließpapier. In der Ferne schrie ein Käuzchen.

Das Tor des Hauptgebäudes war verschlossen. Mit diesem Umstand hatte er bei seinem triebhaften Vorhaben nicht gerechnet. Er hätte läuten und den Pförtner aufwecken können. Er zögerte, es zu tun. Es war zuviel Alarm. Womit sollte er es begründen? Wußte er denn, ob Kerkhoven noch wach war? Allerdings war er beinahe überzeugt davon, er hatte ja den Ruf gehört. Alle Fenster waren dunkel bis auf zwei im Erdgeschoß. Es war das Zimmer von Aleid Bergmann. Es hatte eine Glastür gegen den Garten; er stieg über das eiserne Geländer, das eine wenig erhöhte Terrasse umschloß und pochte an die Scheibe. Nach einer Weile wurde der Stoffvorhang zurückgeschoben und Aleids erstaunt-fragendes Gesicht spähte durch das Glas. Als sie ihn erkannte, öffnete sie die Tür zu einem Spalt und rundete, noch erstaunter, die Brauen. »Seien Sie mir nicht böse,« sagte er, »ich möchte zu Ihrem Vater hinauf und wollte niemand wecken. Können Sie mich nicht durch Ihr Zimmer lassen?« – »Ist was passiert?« fragte sie zurück, und da er den Kopf schüttelte, starrte sie ihn verdutzt an, machte aber die Tür auf. Sie war in einem weiß- und rotgewürfelten Pyjama, das kupfrig leuchtende Haar stand steil in die Höhe, Alexander mußte an den Pierrot von Cézanne denken. »Sprechstunde zu nachtschlafender Zeit?« spottete sie und kniff die Augen zusammen, »ich weiß nicht, ob Sie Glück haben werden, manchmal schläft sogar Joseph Kerkhoven...« – »Nicht heute,« erwiderte er und war schon an der Tür zum Korridor, »ich schaue jedenfalls nach, kümmern Sie sich nicht weiter um mich, heraus komm ich auf dem normalen Weg.« Sie hielt die Türklinke, während er schon draußen stand, und plötzlich streckte sie ihm die Hand hin, die er überrascht nahm und drückte.

Er tastete sich zur Stiege, dort hatte er keine Mühe mehr; durch die schmalen Treppenhausfenster fiel das Mondlicht. Dennoch ging er die Stufen hinauf wie mit Blei an den Füßen, und als er vor dem Refektorium stand, zauderte er und überlegte. Es war eine schwere Eichentür; wie ihm erinnerlich war, öffnete sie sich völlig lautlos. Er wollte sich erst vergewissern, ob drinnen Licht war; wenn nicht, wollte er wieder umkehren; sich durch Anklopfen bemerkbar zu machen, hinderte ihn eine unbestimmte Scheu als müsse er sich bis zum letzten Moment die Möglichkeit der Flucht sichern. Dann auf einmal stand er drinnen und übersah den kirchenartig mächtigen Raum, durch das dämmrige Halbdunkel hindurch, das nach oben in die Schwärze des Gebälks strömte, bis zu dem Schreibtisch auf der andern Seite, der gleichsam meilenweit entfernt schien, und an dem Kerkhoven saß und schrieb. Der herabgebeugte Kopf und die Schultern waren von der elektrischen Lampe beleuchtet; auch die schreibende Hand bewegte sich in diesem starken Licht und sah aus wie ein merkwürdiges Kriechtier, sehr weiß, sehr vorsichtig hingleitend über die glatte weiße Fläche. Alexander regte sich nicht. Das Bild erschütterte ihn. Der Mann mitsamt dem gelben Lichtkegel begraben in der tiefen Nacht, das Schweigen und die Einsamkeit um ihn: es war als erblickte Alexander Herzog sich selbst in den edelsten, besten, hingegebensten Stunden seines Lebens. Daraus schöpfte er Mut, die Brust weitete sich ihm, der Einlaß in die »Zauberpforte« dünkte ihn nicht mehr so unmöglich wie noch vor wenigen Augenblicken, am liebsten hätte er sich jetzt still fortgeschlichen; aber Kerkhoven schaute jäh empor in die Richtung der Tür, es war wie ein Hören nach dem Hören, in seinen Zügen malte sich verträumte Verwunderung. Und als er sah, daß es Alexander war, durchmaß er mit seinem charakteristisch lebhaften, plump-leichten Schritt die Breite des Raums; und mit einem »Sie sind es? welche Freude!« ergriff er Alexanders Hand und führte den späten Besucher mit der ihm eigenen Courtoisie zum Kamin, in welchem noch die Buchenscheite glommen. »Nehmen Sie Platz,« sagte er in einem Ton als sei es fünf Uhr nachmittags, »machen Sie sichs bequem. Eine prächtige Idee, noch zu mir zu kommen!«


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