Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

10

Zwei Menschen, die sich krampfhaft aneinander festhalten in der Hoffnung, daß sie vereint dem saugenden Strudel eher entkommen werden als jeder für sich: das ist der Vorgang. Marie läßt sieben gerade sein; der Haushalt auf Gut Lindow verwahrlost ein wenig. Ihr graut vor dem Winter. Jeder werdende Tag schiebt eine Ödnis vor sich her. Jede einzelne Stunde der Nacht hat ihr besonderes Schreckensgesicht. Warum kann man nicht verlöschen wie eine niedergebrannte Kerze? fragt sie sich, so zu leben ist ein Verbrechen an der Natur. Wenn das seltsame, alles Augenscheinliche umlügende Delirium über sie kommt, flackern die Blutgeister empor, und das Verrückteste hat einen Schimmer von Möglichkeit, daß er plötzlich an der Tür steht, der geliebte Flüchtling, und um Einlaß bittet; daß das Telephon läutet und sie hingeht und seine Stimme hört; daß Joseph ihn ruft, vielleicht nur, um mit ihm abzurechnen, ihn gewissermassen vor Gericht zu laden und sie ihn einmal noch, ein einziges Mal, sehen kann. Darein mischen sich, wenn es wieder finster in ihr wird, aufregende Rachegelüste. Sehnsucht schlägt um in Haß. So durfte er sie nicht sich selber überlassen. So durfte er nicht seinem Meister entlaufen, dem Mann, der ihn geformt, ihn erst richtig auf zwei Beine gestellt, ihm den Begriff gegeben hat, was eine menschliche Seele ist.

Eines Nachts, sie sind in der Philharmonie gewesen, wo der Donkosakenchor gesungen hat, sagt sie: »Ein Brief von dir, Joseph... wenn du ihm ein paar Zeilen schreiben würdest... es wäre eine Erleichterung... für dich, für ihn, für mich...« – Kerkhoven verfärbt sich. Er starrt düster auf seinen Teller. »Schreiben? ihm?« stößt er mit brüchiger Stimme hervor; »komische Idee. Was versprichst du dir davon? was für eine Erleichterung meinst du?« – Marie greift über den Tisch mit beiden Händen nach seiner Rechten. »Daß du ihm verzeihst,« sagt sie kaum hörbar und sieht ihm inständig flehend ins Gesicht; »es wäre das einzige, was uns retten könnte.« Sie sagt »uns«, sie wollte sagen »dich«; der Gedanke ist ihr während des Konzerts gekommen, und im selben Moment hatte sie aufgeatmet als wäre ihr ein Block von der Brust gefallen. Sie muß diesen Mann dem Leben wieder zurückgeben. Sie muß ihn zu sich selbst zurückführen und ihre ganze Macht einsetzen, damit er sich aus der Verstörung erhebe. Es ist ihre Pflicht, ist ihre dringlichste Schuldigkeit, und der Weg, der sich ihr beim Anhören der ergreifenden Gesänge gezeigt, erscheint ihr als der einzig gangbare. »Ich sehe in der Tat nicht, wie es sonst mit dir oder mit mir wieder aufwärts gehen soll,« sagt sie. – Kerkhoven ist aufgestanden und marschiert wie ein Automat um den runden Tisch herum. »Wie soll ich ihm denn schreiben, da ich gar nicht weiß, wo er ist,« murrt er unwillig; »niemand weiß es. Niemand.« Widerstrebend spürt er, wie er dem Einfluß von Maries Worten und Wesen erliegt; es ist bereits eine vollendete Form der Hörigkeit, denkt er unzufrieden. – »Du warst doch einmal mit seiner Mutter in Verbindung,« tastet sich Marie zaghaft vor. – »Als ich ihr zuletzt schrieb, wohnte sie in Baden-Baden,« antwortet er. Dann: »Es ist sinnlos, Marie. Es geht gegen den Stolz. Ich kann das nicht. Man vergibt sich zuviel.« – »Wirklich? Vergibt man sich etwas, wenn man vergibt? Du überschätzt alle diese Dinge. Du bist nicht mehr du. Wärst dus noch, alles wäre anders.« – In einem sonderbaren Anfall von Bewußtlosigkeit redet Kerkhoven vor sich hin: »Eines könnt ich tun... müßt ich tun... ihn suchen... schließlich müßte man ja erfahren können, wo...« Seine Züge verzerren sich, er ballt die Faust. – »Schau mich doch an,« bittet Marie mit gefalteten Händen. Sie sitzt in der Ecke, in einem blausamtenen Schlafrock vor der purpurrot tapezierten Wand, ihr Gesicht mit den geschlossenen Augen ist so weiß wie gefrorene Milch. – »Auch ich sehe keinen Schritt weiter, Marie,« sagt Kerkhoven hart, und seine tiefe Stimme tönt wie in einer Kirche; »ich stehe vor dem Nichts.«

Plötzlich tritt er dicht an sie heran und legt seine mächtige Hand auf ihren Scheitel. Ihre Haare sind wunderbar warm wie Heu in der Sonne. Sie blickt matt lächelnd zu ihm empor, schüchterne Erwartung in ihren Augen, den »blassen Blumen«. Und da sagt er das Wort, das wie der erste Strahl eines neuen Tages ist: »Du bist im Element getroffen worden, Marie. Soviel weiß ich jetzt. Dort, wo die allerdunkelsten Kräfte wohnen. In der Urnacht könnte man sagen. Das geschieht selten. Die meisten Menschen bleiben davor bewahrt. Wir müssen trachten... man muß die lichten Kräfte versammeln, damit sich die Einbruchsstelle wieder schließt. Wie eine Wunde sich schließt. Denn mit ihr weiterleben können wir nicht.«

Dies hören und aufspringen und die Arme ausbreiten und mit einem Schrei des Dankes den Mann an sich pressen ist für Marie das Tun zweier Sekunden. »Joseph,« seufzt sie und drückt das zuckende Gesicht an seine Schulter.


 << zurück weiter >>