Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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Weil es neu ist

Bis sie eines Tages damit herausplatzte. Ohne Vorbereitung und mit demselben Mut, mit dem sie sich vor Kurzem aufs Zweirad gesetzt hatte und losgefahren war, obgleich sie es nie ordentlich gelernt hatte. Ich war sehr betroffen. Die längste Zeit wußte ich nicht genau, was sie meinte. Sie hütete sich, es genau zu sagen. Sie hatte Angst. Doch begann sie immer wieder von neuem. Jedesmal um einen Ton vernehmlicher, mit etwas beredterer Ausmalung der praktischen Möglichkeit, etwas bewegterem Hinweis auf die großartige Lebens- und Werkentfaltung, die sie mir mit seherischer Glut voraussagte. Wenn ich heute daran zurückdenke, muß ich lächeln, denn instinktiv machte sie es wie der Verkäufer in einem Laden, der so tut als zeige er die wertvollsten Gegenstände ungern her und sie erst zuletzt auf den Tisch legt, wenn er den Kunden schon ein wenig müdegeredet hat. Als ich endlich begriffen hatte, worauf sie hinauswollte, war ich um eine schickliche Antwort verlegen. An dergleichen hatte ich nie auch nur im entferntesten gedacht. Es war als hätte mir jemand vorgeschlagen, ich solle mich auf dem Mond ansiedeln. Ich lachte sie aus. Ich behandelte das Ganze als einen närrischen Einfall. Ich sagte, ich sei vielleicht derjenige Mann in Europa, der am allerwenigsten Sinn und Eignung für die Ehe besitze.

Aber wie es so geht, nach und nach brachten mich einige ihrer Argumente zum Nachdenken. War ich am ersten Tag entsetzt, so am zweiten nur verärgert und am dritten mäßig ungeduldig und abwehrend. Nicht zu jeder Frist konnte ich mich ihrem stammelnden Drängen, der feurigen Angelobung und einer Dienstbereitschaft entziehen, von der sie durchzittert war wie von einem Fieber. Nicht ganz wenigstens. Schließlich hatte sie mir ja den Beweis geliefert, obschon nicht den vollgiltigen, daß sie nicht mit sich sparte. Das konnte unmöglich Berechnung gewesen sein. Ihre Zärtlichkeit war überströmend. Ihr Eifer, mir zu gefallen, mir jeden Wunsch von den Augen abzulesen, grenzte an Besessenheit. Ich schämte mich oft. Hätte ich geahnt, daß diese Scham eine von mir nicht gewußte innere Schutzmauer war, ich hätte vielleicht anders gehandelt. Wohl fand ich sie komisch in ihrer Verworrenheit, ihrer Hilflosigkeit und Traumverfangenheit; aber auch liebenswert. Man kann ein Weib liebenswert finden, ohne es zu lieben; das führt ins gefährliche Halbe, wo Entschlüsse sich kreuzen und einander aufheben. Wenn ich ihr meine Hand überließ, konnte sie still verzaubert dasitzen als sei die Minute eine singende Ewigkeit, dann beugte sie sich nieder und preßte ihre Lippen mit einer Andacht auf meine Finger, die mich manchmal zu sagen zwang: tu das doch nicht, laß das doch. Es war mir neu. Die Frau, die ich geliebt hatte, erstmalig, uneingeschränkt, zu jeder Torheit, ja zum Verbrechen bereit und auch dem Verbrechen nah, hatte meine Liebe kühl geduldet und mich schmählich betrogen und ausgenützt. Es war eine Wunde, die noch nicht aufgehört hatte zu schwären. Wie wohltuend, einmal zu empfangen, statt immer geben zu müssen, unbedankt, ja verhöhnt.

Willst du oder willst du nicht?

Indessen ließ ich den Dingen ihren Lauf. Ich sagte nicht ja und sagte nicht nein. Das Ja hätte mein Leben umgestülpt, sodaß es einem Planetensystem geglichen hätte, worin ein frecher Komet das Gesetz der Schwerkraft aufgehoben hat. Das Nein wiederum... es war schwer. Nicht als wäre ich lüstern gewesen nach den Fleischtöpfen Ägyptens. Ich leugne nicht, daß ich ein wenig müde war. Müde der unbeglichenen Rechnungen, der verlegenen Gesichter meiner Bekannten, wenn ich sie um ein Darlehen bat, der Löcher in meinen Strümpfen, die niemand stopfte, der zerfransten Manschetten in meinen Hemden und der täglichen kleinen Demütigungen, die ich von Leuten hinnehmen mußte, die nichts so verachteten wie die Armut. Ich hätte gern einmal nichts mehr gewußt von den Bitternissen und Kränkungen, wäre gern einmal abends im Bett gelegen, ohne mir das Hirn zu zermartern, womit ich die Erlaubnis, darin zu schlafen, zahlen solle. Ich wäre gern einmal sorglos gewesen. Ich konnte Ganna nicht unrecht geben, wenn sie fand, die vielen kleinen Lebensplagen würden mich langsam aufreiben. Aber es fiel mir nicht ein, deswegen nach den reichbesetzten Tafeln der Wohlhabenden zu schielen, ihren gefüllten Weinkellern und eifersüchtig bewachten Geldschränken. Eine Welt schied mich von ihnen.

Jedoch war eine meiner verhängnisvollsten Eigenschaften die, daß ich gegen einen Willensmenschen hauptsächlich deshalb unterlag, weil mich das Phänomen der Willenskraft an sich in so nachhaltiges Staunen versetzte, daß ich mich zu einem Entschluß erst dann aufraffte, wenn der andere bereits über mich verfügt hatte. Dann redete ich mir ein, ich hätte das meinige getan und war froh, daß mir die Mühsal weiteren Kampfes erspart blieb. Und Ganna verfügte über mich. Ihre Augen hatten in diesen Tagen einen Ausdruck, den man bei Wettläufern beobachtet, die um jeden Preis siegen wollen und den Blick mit unheimlicher Starrheit gegen das Ziel richten. Was erfüllte sie mit solcher Verlustangst, solcher Zeitangst? Ich bemühte mich, ihr Ruhe einzuflössen. Sie dankte mir überschwenglich, doch sah es aus als sei in ihrem Innern alles wund. Mir ahnte, wie sehr sie die Gefangene ihrer Triebe war, und wenn ich nicht als trauriger Stümper vor ihr stehen wollte, mußte ich trachten, sie aus ihrem Kerker zu befreien. Dadurch wurde ich selber an die Kette geschmiedet.

An einem regnerischen Nachmittag kam sie wieder einmal abgehetzt und keuchend auf ihrem Rad daher, stürmte in meine Stube hinauf, warf sich mir an die Brust, stemmte die Arme gegen meine Schultern und schaute mich an wie wenn sie in derselben Stunde aufs Schafott geschleppt werden sollte. Ich fragte erschrocken, was ihr sei, sie schüttelte mit geschlossenen Augen den Kopf. Sodann riß sie sich los, lief auf den kleinen Balkon, erstieg mit einem Satz die Brüstung, drehte sich zu mir zurück und sagte mit einem hysterischen Klirren in der Stimme: »Wenn du mich nicht zu dir nimmst, spring ich hinunter ins Wasser; auf Ehre und Seligkeit, ich tus. Entweder heiratest du mich oder ich spring hinunter.« – »Ganna!« rief ich sie an. Das Haus lag dicht am See. An die Westmauer klatschte das Wasser. Ein Sturz von sechs Meter Höhe war unter allen Umständen kein Spaß. Ihrer Tollheit war es zuzutrauen. »Ganna!« rief ich noch einmal. Sie sah mich an, halb verklärt, halb fanatisch und streckte die Arme hinaus. Ich packte sie am Knöchel und sagte unwillig: »Ich bitte dich, laß das, Ganna.« – Und sie: »Willst du oder willst nicht?« – Ich wußte nicht, sollte ich lachen oder zornig sein. »Ich will ja, ich will ja,« sagte ich hastig, nur um die peinliche Szene abzukürzen, doch war mir im selben Moment zumut als hätte ich unversehens etwas Giftiges geschluckt. Sie sprang zurück, fiel vor mir auf die Knie und bedeckte meine Hand mit Küssen.

Später, viel später dachte ich oft über diesen Vorfall nach. Genau genommen, so überlegte ich mir, war es nicht viel anders als ein Überfall mit dem Revolver. Hände hoch oder es wird geschossen. Ob der Revolver geladen war, tut nichts zur Sache. Es war auch nicht mehr festzustellen. Schlimm, wenn er geladen war, schlimmer, wenn er nicht geladen war. Aber damals, da es geschah, war ich vollkommen arglos. Der Gedanke, es könne sich um ein Manöver handeln, kam mir gar nicht in den Sinn. Manöver, mit einem so groben Wort wäre es auch nicht abzutun gewesen. Ich jedenfalls sah eine von ihrer elementaren Empfindung Hingerissene. Ich kann nicht mehr ergründen, ob es geschmeichelte Eigenliebe oder Erbarmen war, aber ich sagte mir, ich dürfe sie nicht von mir stoßen, wenn ich sie nicht für immer zerstören wollte. Ich glaubte die Verantwortung nicht übernehmen zu können, wenn sie sich ein Leid antat. Ich bewunderte ihren Mut, ihre Entschlossenheit, dies kühne Alles-oder-nichts. Und seltsamerweise war mein hastiges Ja die Folge eines sinnlichen Reizes gewesen. Während ich ihren schmalen Knöchel umfaßte, war mir zumut als hielte ich den bebenden glühenden Leib in meinen Armen. Sie erschien mir so zart, so gebrechlich. Das Zarte und Gebrechliche an Frauen hat stets meine Zärtlichkeit erweckt und mein Blut entzündet. Bis dahin hatte ich mich nur still dem Ansturm ihres Gefühls gebeugt.

Ich weiß nicht, ob ich das mit dem Revolver nicht besser verschwiegen hätte. In ihrer inneren Verworrenheit konnte sie nicht unterscheiden zwischen dem was zulässig und was verwerflich war. Der Trieb beherrschte sie, der blinde, kreatürliche Trieb. Der vom Berghang fallende Stein überlegt nicht, ob er den Kopf eines Wanderers treffen wird. Und dieser Trieb, diese stumme Wucht wirkte auf mich wie ein Naturereignis.

Fedora

Wir waren eine kleine Kolonie dort, die sich aber, weil die Jahreszeit schon vorgeschritten war, nach und nach aufgelöst hatte. Nur meine Freundin Fedora Remikow war geblieben, eine junge Pianistin aus Petersburg, und mit ihr der Doktor Eduard Riemann, ein außerordentlich gescheiter und unterrichteter Mensch in meinem Alter, Philosoph, Privatgelehrter, wohlhabender Lebemann. Ihm schloß ich mich immer fester an, denn einen klareren Kopf und einen unbestechlicheren Geist habe ich selten getroffen. Den beiden, die auch untereinander in freundschaftlicher Beziehung standen, war mein zerstreutes und unzufriedenes Wesen aufgefallen, und da sie mich mehrmals in Gannas Gesellschaft gesehen hatten, glaubten sie nicht fehlzuschließen, wenn sie in ihr die Ursache meiner Verstimmung erblickten. Fedora stellte mich offen zur Rede. Ich wich ihr aus, aber eines Tages fragte ich sie, ob ich das Mädchen mit ihr bekannt machen dürfe. Ich wollte Fedoras Urteil erfahren. Ich wollte wissen, wie Ganna auf einen so reinen und unbefangenen Menschen wie Fedora wirke. Wir verabredeten ein Zusammensein zur Teestunde. Auch Riemann sollte dabei sein. Der Versuch fiel ziemlich unglücklich aus. Ganna war über die Massen aufgeregt. Sie hatte das Gefühl als solle sie von meinen Freunden auf Herz und Nieren geprüft werden. Sie ging hin wie eine Angeklagte zur Gerichtsverhandlung. Im Bemühen sich von der vorteilhaftesten Seite zu geben, verkrampfte sie sich. Fedora spürte ihre Gepreßtheit und schaute sie mitfühlend an. Zufällig kam das Gespräch auf das damals vielgelesene »Buch eines Rembrandtdeutschen«, und es entspann sich eine Debatte zwischen Ganna und Eduard Riemann, der das Buch nicht sonderlich schätzte; wenn ich mich recht erinnere, nannte er es eine Paradoxensammlung für den geistigen Mittelstand. Ganna widersprach. Leider übernahm sie sich dabei. Sie war dem gründlichen Wissen und der überlegenen Logik Riemanns in keiner Weise gewachsen, wollte es aber nicht wahr haben und kehrte etwas backfischhaft die philosophisch Geschulte heraus. Riemann wippte gutmütig lächelnd auf seinem Stuhl. Seine Repliken waren schonungsvoll, aber vernichtend. Fedora verhielt sich schweigsam. Wenn sich unsere Blicke begegneten, war ein befremdet fragender Ausdruck in ihren Augen. Ich bewunderte Gannas Mut, ihre Belesenheit und Schlagfertigkeit. Die Mißbilligung der Freunde empfand ich schmerzlich. Wie wenn ich selbst verkannt würde, wie wenn widrige Umstände verhindert hätten, daß sich Ganna mit ihren wahren Vorzügen zeigte, fühlte ich mich solidarisch mit ihr.

Ganna hatte gemerkt, daß sie nicht den ersehnten Eindruck auf Fedora und Riemann gemacht und trachtete ihn zu verbessern. Das hätte sie nicht tun sollen. Weiß Gott, warum sie sich einbildete, sie müsse in Fedora eine Parteigängerin gewinnen. Darin mangelte ihr schon damals jeder Instinkt. Sie handelte immer so als ließen sich Sympathien erzwingen. Sie brachte Fedora selbstgepflückte Blumen und schrieb ihr Briefe mit heftigen Erklärungen ihrer Liebe. Anfangs war sie der Meinung gewesen, zwischen mir und Fedora habe ein innigeres Band als bloße Freundschaft bestanden. Als Fedora sie mit ein paar kühlen Worten aufklärte, ungefähr wie man eine falsche Zeitungsmeldung richtigstellt, fiel ihr Ganna um den Hals und küßte sie ab. Ein unverzeihlicher Fehler. Kurz darauf, einen Tag vor Gannas Abreise nach Wien, Ganna war gekommen, um sich von ihr zu verabschieden, beging Fedora ihrerseits einen schweren Fehler. Sie war töricht genug, Ganna von der Ehe mit mir abzuraten; sie suchte sie zum Verzicht zu bewegen. Sie sagte: »Wenn nicht um Ihretwillen, so doch um seinetwillen.« Da antwortete Ganna mit empört blitzenden Augen: »Was fällt Ihnen ein, Fedora? Wie können Sie so etwas sagen? Alexander und ich gehören für die Ewigkeit zusammen.«

Fedora erzählte mir dies ein paar Tage nachher mit kaltem Auflachen. Ich sehe sie noch, wie sie in der Einbuchtung des Flügels lehnte, das weiße Taschentuch vor dem Mund. Da sie an krankhafter Verfettung litt und beim Spielen häufig Asthmaanfälle bekam, hatte sie sich angewöhnt, das mit einer lösenden Flüssigkeit getränkte Taschentuch regelmäßig zum Mund zu führen. Sie besaß aber trotz der unförmigen Figur viel Anmut; auf dem fülligen Körper saß ein wahres Belliniköpfchen mit durchdringend klugen Augen. Sie fragte mich, was nun geschehen würde, wie es zwischen Ganna und mir stehe. Ich erwiderte, Ganna werde mit ihrem Vater reden. Sie wollte wissen, ob ich Ganna dazu ermächtigt hätte. Und als ich es bejahte: ob mein Gewissen dabei ruhig sei. Ich verlor die Geduld und warf ihr vor, sie sei ungerecht gegen Ganna, verstehe nicht deren großangelegte Natur, sperre sich zu in weiblicher Ungroßmut. Sie zuckte die Achseln und entgegnete leise: »Es sind subtile Dinge, Freund, furchtbar subtile Dinge...«

Am andern Morgen bekam ich einen Brief von ihr. Ich habe ihn jahrzehntelang aufgehoben, bei der Übersiedlung nach Ebenweiler ist er mir verlorengegangen. Sie habe Angst um mich, schrieb sie. Ich solle den Schritt, den ich zu tun gedächte, reiflich überlegen. Ich solle mich prüfen, ich solle warten, ich solle nichts überstürzen, sie bitte mich innig darum. »Sie lieben doch Ihre Zukunft,« hieß es weiter, »Sie müssen sie lieben wie eine Schwangere ihr unbekanntes Kind liebt. Sie tragen eine gewaltige Verantwortung in sich. Sie setzen so Ungeheures aufs Spiel. Respektieren Sie, was das Schicksal mit Ihnen vorhat. Ich bin tiefbetrübt. Es ist die bitterste Enttäuschung, wenn ein Freund nicht hält, was er der Freundschaft versprochen hat, denn das hat er der Welt versprochen. Haben Sie sich also bereits endgiltig gebunden, so ist mir das wie Verrat, und wir wollen uns lieber nicht mehr sehen.«

Diese Sätze sind mir genau in Erinnerung geblieben. Sie riefen aber nicht die Wirkung hervor, die Fedora beabsichtigt hatte. Ich war innerlich erkältet. Ich suchte nach Beweggründen, die dem makellosen Charakter Fedoras fern lagen. Ich stellte mich völlig und nicht ohne Trotz auf die Seite Gannas. Mich dünkte, es genüge nicht, ihre Liebe zu erwidern, sondern ich müsse auch ihr Ritter und Beschützer sein. Am Tag darauf hörte ich, daß Fedora mit Riemann abgereist sei.

Ganna schwört

Etwas habe ich vergessen zu berichten, obwohl es keine besondere Wichtigkeit hat. Nur damals hatte es eine gewisse Bedeutung für mich, da es mir an jeder Welterfahrung gebrach. Am vorletzten Abend vor der Trennung von Ganna saßen wir am Seeufer. Nach einem langen Schweigen kehrte ich mich ihr zu und sagte: »Schön, Ganna. Es sei, wie du es willst. Unter einer Bedingung. Du mußt mir feierlich geloben, daß du mich freigibst, sobald ich es von dir fordere.« Ganna, ganz unschuldiges Kind, gekränktes und mißhandeltes Kind, antwortete vorwurfsvoll: »Ach, Alexander, wie kannst du nur denken, ich würde mich weigern! Da wäre ich ja deiner nicht wert.« – »Nichts da, ach Alexander,« beharrte ich, »du mußt es mir geloben. Du mußt es vor Gott geloben.« Sie sah mich an mit dem magdhaften Blick und, die Hand erhoben, gelobte sie es vor Gott. Ich war beruhigt.

Ihr mögt es glauben oder nicht, ich war beruhigt. Welche Verkennung des Wortes und dessen, was die Zeit bewirkt und dessen, was der Name Gottes in einer philosophisch aufgeklärten Seele wie der Gannas war! Es war der Einfall eines Toren. Wann hätte je ein liebender Mann einer solchen Zusicherung bedurft und wann ein Weib, das einen Mann haben will, sie nicht unbedenklich gegeben, vor Sonne und Mond und Gott und allen Engeln des Himmels? Die Jahre verwandeln den heiligsten Schwur in einen Spaß, und das Gedächtnis ist ein gefälliger Kuppler.

Und als sie weg war, dachte ich mit großer Zärtlichkeit an sie. Es gab Augenblicke, da ich dieses Gefühl für Liebe hielt, aber dann sagte ich mir wieder: Liebe ist eine Quecksilberkugel, sich ihrer zu versichern kostet das halbe Leben, will man sie fassen, zerteilt sie sich, man kriegt nie das Ganze. Kameradschaft lockte mich. Übereinstimmung der Seelen, redete ich mir ein, macht Liebe entbehrlich. Sich lieben lassen, kann keine Sünde sein, wenn man imstande ist, etwas dafür zu geben. Und was ich geben konnte, war eben Zärtlichkeit, zärtliches Verständnis, zärtliche Schonung, zärtliche Führung, zärtliches Vertrauen. Das war der Weg. Ich war überzeugt, es sei der rechte Weg. Ich merkte nicht, daß ich mich in eine Casuistik der Gefühle verlor.

Verwunderung im Hause Mewis

Ganna hatte mir versprochen, über unser Verlöbnis zu schweigen, aber sie konnte sich nicht bezähmen, nach drei Tagen wußten es alle, die Schwestern, die Mutter, die Bekannten, die Verwandten. Frau Mewis verhehlte ihre schweren Besorgnisse nicht. Heute sehe ich ja die Dinge anders als vor dreißig Jahren; vieles Lächerliche fand ich durchaus in der Ordnung. Es gehörte zu den Abgeschmacktheiten der Epoche, daß man in den reichen Bürgerfamilien von Mesalliancen sprach wie in der Hocharistokratie. Der einzige, der die längste Zeit nichts wußte, war der Professor. Frau Mewis zitterte Tag und Nacht. Verweigerte er seine Einwilligung, so waren die gräßlichsten Szenen zu gewärtigen, und die Schuldige war wie immer sie. Sie hatte Vorschub geleistet, hatte Ganna nicht in Zucht gehalten. Die Angst vor ihm, unter der sie seit Beginn ihrer Ehe litt, hatte nach und nach ihr Gemüt zerrüttet. Der auf ihr lastende Druck glich dem, den das Wasser auf ein versunkenes Schiff ausübt. Es ist eine Frage der Zeit, wann das Wrack in Stücke fallen wird. Die aufmerksamen unter den Töchtern beobachteten seit langem wiederkehrende Zeichen seelischer Krankheit an ihr. Es war die Krankheit von vier Fünftel aller Frauen der bürgerlichen Gesellschaft, die Krankheit des leeren Betriebs, der hohlen Repräsentation, des automatischen Kindergebärens. An dem Tag, da Ganna ihrem Vater das Geständnis machte und unerklärlicherweise alles glimpflich ablief, atmete die alte Dame auf. »Ich dachte, er wird sie erschlagen,« sagte sie zu Irmgard und Traude; »ein Schriftsteller; ein Mensch, der nichts ist und nichts hat. Eigentlich verstehe ich Väterchen nicht.« Irmgard hat mir das später berichtet.

Wie es kam, daß der Professor die Mitteilung seiner Tochter Ganna gefaßt und unerzürnt aufnahm, kann ich mir selbst nicht erklären. Gut, er hatte mein Buch gelesen. Sicherlich hielt er mich nicht für ein so überflüssiges und hoffnungsloses Subjekt wie seine Gattin. Aber ein leutselig geduldeter Bücherschreiber und ein offizieller Schwiegersohn, das sind sehr verschiedene menschliche Positionen. Er hat mir später einmal unter schallendem Gelächter versichert, er habe Ganna kein Sterbenswort geglaubt; er sei fest überzeugt gewesen, das phantastische Geschöpf sei die Beute von Einbildungen und habe zunächst abzuwarten beschlossen, ob ich mich melden würde. »Na, und du hast dich ja gemeldet,« rief er triumphierend und schlug mich auf die Schulter, daß mir alle Knochen weh taten. Es war ein wenig verräterisch. Ich sah daraus, wie glücklich er gewesen war, Ganna los zu sein. Die Schwestern aber konnten sich nicht lassen vor Verwunderung. Sie sagten: »Den Alexander Herzog hat sie herumgekriegt, den Vater hat sie herumgekriegt, da muß sie schön gehext haben, die gute Ganna.« Hexen hieß in der Sprache der Schwäne dasselbe, was ich als Gannas dunkle pythische Macht empfand.

Freier

Das Gespräch mit dem Professor habe ich mir damals in den Hauptpunkten in meinem Tagebuch notiert. »Sie wollen also meine Tochter heiraten?« begann er, als ich ihm gegenüber saß. – »Ich will es eigentlich nicht, Ganna will es,« sagte ich. Er schaute mich groß an. »Bon,« versetzte er nachgiebig, »sagen wir also, Sie sind im Prinzip nicht dagegen.« – »Nein, im Prinzip nicht.« – »So dürfen wir also die praktische Seite der Angelegenheit ins Auge fassen. Ich nehme an, Sie können eine Frau ernähren.« – »Diese Illusion muß ich Ihnen rauben, Herr Professor. Ich kann nicht einmal mich selbst ernähren.« – »Eine lobenswerte Aufrichtigkeit. Aber das dürfte doch nicht immer so bleiben.« – »Sie irren. Es wird sich voraussichtlich nicht ändern.« – »Wie das? Sie sind als Autor bekannt und geschätzt.« – »Trotzdem besitze ich nichts.« – »Aber wovon leben Sie?« – »Von Schulden.« – »Wie hoch sind die Schulden?« – »Ungefähr dreitausend Mark.« – »Das geht an. Sie sind noch jung. Eines Tages wird sich der äußere Erfolg einstellen.« – »Möglich, aber ich fürchte ihn.« – »Sie fürchten ihn?« – »Es wäre ein Zeichen, daß ich Konzessionen gemacht habe. An den Geschmack. An die Mode. Ich will keine Konzessionen machen.« – »Ein Standpunkt, den ich achte. Allein wie stellen Sie sich dann die Ehe mit meiner Tochter vor?« – »Um ehrlich zu sein, Herr Professor, ich dürfte nicht daran denken, sie zu heiraten, wenn ich nicht wüßte, daß sie Vermögen besitzt.« – Der Professor lachte in seiner dröhnenden Weise. »Sie meinen, daß ich Vermögen besitze?« – »Ja, das meine ich.« – »Sie sind ein Mann, dem vor der Wahrheit nicht bange ist.« – »Das ist mein Beruf, Herr Professor. Ich mache mir nichts aus Geld. Ich mache mir nichts aus Wohlleben. Ich will Ganna zur Lebensgefährtin haben. Ich glaube, wir passen zueinander. Aber ich müßte auf sie verzichten, wenn von mir verlangt wird, daß ich im bürgerlichen Sinn Brotarbeit leiste. Ganna weiß, daß ich in dieser Beziehung frei sein muß. Ich bin auch nicht gekommen, Sie, wie man so sagt, um Gannas Hand zu bitten, obgleich es so aussieht. Ich wollte Ihnen offen meine Verhältnisse darlegen, weil Ganna davon durchdrungen ist, daß sie nur mit mir glücklich werden kann.« – »Schön; Ganna. Und Sie?« – »Ich habe Ganna sehr lieb. Ich erwarte das Höchste von ihr. Aber für mich ist die Ehe keine conditio sine qua non.« – »Ich verstehe. Aber Sie wollen mit alledem doch nicht sagen, daß Sie nicht irgendwann, in Jahren vielleicht, zu einem Ihrer Begabung entsprechenden Einkommen gelangen werden?« – »Ich halte es nicht für wahrscheinlich. Ausgeschlossen ist es nicht. Es gibt solche Zufälle. Nicht immer ist die Strenge der Haltung eines Schriftstellers von Einfluß darauf. Wir leben in einem barbarischen Zeitalter, Herr Professor.« – »So? Das ist mir neu. Ich dachte, wir lebten im Schoße einer glücklichen, einer wachsenden Zivilisation.« – »Ich fürchte, das ist eine Täuschung.« – Der Professor erhob sich. »Der Zinsenertrag des Kapitals, das ich meiner Tochter mitgebe, schützt euch beide vor Not. Das ist aber auch alles.« – »Mehr ist nicht erforderlich.« – Der Professor streckte mir die Hand entgegen und sagte mit Wärme: »Dann sind wir also gewissermaßen einig. Dann darf ich Sie also als Mitglied meiner Familie begrüßen.« Am selben Tage hatte er noch eine kurze Unterredung mit Ganna, nach der sie, vor Glückseligkeit lachend und weinend, sein Zimmer verließ.

Negerdorf

Jede Familie ist ein Saugapparat. Gierig saugt sie den Fremdling in sich auf, der ihr angehören soll und sich, durch Scheu gehemmt, dagegen sträubt. Als ich die fünf künftigen Schwägerinnen, die drei Schwäger, die verschiedenen Onkel und Tanten, die Enkelkinder, die Hausfreunde kennengelernt hatte, brauchte ich geraume Zeit, um sie alle von einander zu unterscheiden und mit den richtigen Namen oder Titeln zu benennen. Es war wie in einem personenreichen Theaterstück, wo man anfangs immer den Zettel studieren muß, um nachzusehen, welcher Schauspieler auf der Bühne steht. Daß ich selber mitspielen sollte, vergaß ich. Schwer wurde mir die Zeremonie der allgemeinen Verbrüderung. Ich sah keinen zwingenden Grund, weshalb ich Leuten, die mir bis jetzt ganz unbekannt gewesen, plötzlich du sagen sollte. Die Selbstverständlichkeit, mit der man es erwartete und mir gegenüber übte, versetzte mich in das größte Erstaunen. Ich erfuhr eine Fülle neuartiger Sitten. Das meiste von dem, was ich tat oder sagte, war ein unbeabsichtigter Verstoß gegen diese Sitten. Sie sollten mir als etwas Geheiligtes erscheinen, aber in den ersten Tagen und Wochen kamen sie mir wie die Konventionen eines Negerdorfes vor, und manchmal war mir auch zumute wie einem Reisenden in einem Negerdorf. Das ganze Treiben schüchterte mich ein. Die Bankette, die Familientage, die gemeinsamen Unternehmungen, die Gespräche waren ebenso lärmend wie anstrengend. Aber allmählich verlor sich diese Empfindlichkeit. Man hält im allgemeinen den Vorgang der Anpassung für etwas Segensreiches, ich weiß aber nicht, ob er nicht in vielen Fällen auf einer Trübung der Sinne und einer Abstumpfung der Nerven beruht. Ich war eine ungeschliffene Person in ihren Augen und sie machten sich mit Emsigkeit daran, mich zu schleifen. Bereitwillig und vielleicht sogar ein wenig geschmeichelt nahmen sie mich in den sakralen Kreis der Verwandtschaft auf, zugleich hatten sie aber Angst vor meiner Fremdlingsnatur und brachten mich in einer Art unsichtbarem Käfig unter, dem Familienkäfig, wie ein exotisches Tier, das man gegen Eintrittsgeld zeigt, auch wenn es noch so zahm ist und nicht daran denkt, auszubrechen.

Das sind posthume Betrachtungen, und ich könnte deren noch mehr hinzufügen, wenn ich nicht fürchtete, daß die Härte meines heutigen Urteils in allzuschroffem Gegensatz steht zu meinem damaligen Verhalten und Gefühl. Denn alsbald war ich ganz und gar der ihre, gehörte ganz und gar dazu. In meiner Neulingsnaivität ließ ich mich umstricken und mit ihren Interessen füllen, in ihre Beziehungen flechten, mir den Geschmack an ihren Vergnügungen beibringen und glaubte allen Ernstes, das Negerdorf, in dem sie sich geschäftig tummelten, sei die große Welt. Ich war begeistert von ihnen. Der Luxus, an dem ich teilnehmen durfte, umnebelte meinen Blick. Jedes der prunkvollen Häuser, in denen ich präsentiert wurde, erschien mir wie ein Abbild des kaiserlichen Hofes. In jedem Bankdirektor erblickte ich einen Mann von allmächtigen Befugnissen. Die Öde ihrer Gesellschaften entging mir; in ihren Gesichtern die geistlose Spannung von Menschen, die mit einem Strohhalm zwischen den Lippen Seifenblasen machen und sich eifervoll überbieten, wer die größte und schillerndste verfertigen kann, entging mir. Daß sie die Werte nicht unterschieden; daß alles Tun eine Richtung ins Folgenlose hatte; daß sie äußerlich zusammenhielten wie die Kletten und im Innern kein Gefüge war: ich sah es nicht, und wenn ich es sah, ließ ich mich einlullen wie ein Schläfriger von einer Schmeichelmusik. Ich begriff noch nicht das Gesetz des Krals, die unheimliche Macht des Krals, obwohl er mich bereits mit seinen Fangarmen umschlungen hatte. In allen Familien war es das Gleiche: Schwestern, Brüder, die Angeheirateten und deren gesamter Anhang, die Neffen und Nichten, die sich Jahr für Jahr vermehrten, sie alle zählten zum Kral, ihr Wohl und Wehe war des Krals Wohl und Wehe, die Welt außerhalb war etwas Feindliches, Beargwöhntes und eigentlich Unbekanntes. Was faszinierte mich denn daran so? Wenn man einem wilden Präriepferd den Lasso um den Hals wirft, beginnt es zu zittern und rührt sich nicht mehr vom Fleck. Aber war das wirklich meine Situation? Nicht vielmehr die eines Überläufers, eines Abtrünnigen? Ich gab mir nur keine Rechenschaft darüber. Ich kann aufrichtig sagen, ich wußte es nicht. Freilich, ganz sicher war ich meiner selbst nie. Diese heimliche Unsicherheit wird wohl der Grund gewesen sein, weshalb ich Freund Riemann bei Mewis einführte. Der Vorwand bot sich leicht, ich hatte Ganna, ihren Schwestern und einem der Schwäger, den ich besonders schätzte, versprochen, einige Kapitel aus meinem neuen Buch vorzulesen. Dies geschah auch, und mich dünkte, daß ich mich über Mangel an Verständnis nicht beklagen konnte. Oder war es nur Gannas leidenschaftliches Entzücken, das mich über die Wirkung auf die Andern täuschte? Nahmen sie es nicht ein bißchen auf wie Erwachsene, die den bewegten, aber unzweifelhaft erfundenen und deshalb belächelnswerten Erzählungen eines indianerspielenden Knaben zuhören? Oder wie Leute, denen eine magische Laterne die Bilder kleiner Spielfiguren auftanzen läßt, Engelchen und Teufelchen? Allerdings, in eine Seele, die abgewendet gewesen war, fiel der Same und ging auf: in die Irmgards. Aber das erfuhr ich erst nach Jahren.

Das Zerflossene

Mit Ganna hatte sich indes eine wunderbare Veränderung ereignet. Keine Aufsässigkeit mehr, keine Szenen, nichts mehr von Sargnagel. Eine fügsame Tochter, eine liebevolle Schwester. Wenn der Vater am Abend nachhause kam, stürzte sie in sein Schlafzimmer, holte die pelzgefütterten Schuhe, kniete nieder und schnürte die Bänder seiner Stiefel auf. Den Vormittag über stand sie in der Küche, diesem vordem gemiedenen Ort, Schauplatz des Ungeistes, und bestrebte sich zu ergründen, was man mit Mehl, Öl, grünen Blättern, Zucker und Gewürz alles zaubern kann. Es war nicht interessant, sie würde es bestimmt niemals lernen, nicht wie man ein Ei kocht, würde sie lernen, aber man mußte es tun, es war der Brauch, die Eingeweihten behaupteten, es gehöre zu einer guten Ehe. Unter dem Einfluß der Zeitliteratur und als gläubige Jüngerin Nietzsches und Stirners hatte sie die Familie und alle Familientraditionen aufs tiefste verachtet. Nun aber vergoldete das Glück, das sie wie eine Sonne im Busen trug, den geringsten im Hause, den letzten Dienenden. Sogar die alte Kümmelmann, mit der sie in Feindschaft gelebt, seit sie denken konnte, erfreute sich der besorgtesten Rücksicht von ihr. »Was hast du aus unserer Ganna gemacht?« fragten mich die Schwestern und die Mutter, »sie ist nicht wiederzuerkennen.« Wenn man mir erzählte, wie händelsüchtig, wie unbotmäßig sie immer gewesen, was für tolle Streiche sie angestellt, machte ich ein ungläubiges Gesicht, denn ich wußte ja von keiner anderen Ganna als von der, die ich sah, einer sanften, verträumten, lächelnden, zarten und zärtlichen Verlobten.

Sonderbar berührte mich nur eines. Wie konnte es geschehen, daß ihr Gehirn, bis jetzt erfüllt von Versen, großen Namen und idealem Ehrgeiz, plötzlich zum Register von zwanzig bis dreißig Geburtstagen, Sterbetagen, Ehrentagen und Familien-Jubiläen wurde? Daß sie von heute auf morgen eine weichherzige Pietät gegen die entlegensten Anverwandten in sich entdeckte und jeder verschollenen Kusine, jedem Vatersvetter, jeder Schwagersmutter einen Besuch abstattete? Die Schwäne sagten: sie will ihr Glück spazierentragen, sie will mit ihrem Alexander Herzog renommieren. Eine boshafte Auslegung. Vielleicht war es eine Wiedergutmachungsaktion. Sie hatte so lange als frecher Racker und enfant terrible gegolten, daß es sie jetzt drängte, für ein gutes Gedenken zu sorgen.

Ich weiß nicht, warum mich dieser neue Zug an ihr beunruhigte. Ich sah etwas Krampfhaftes darin, etwas Hektisches, eine ungesunde Mischung von Politik und Sentimentalität. Es fiel mir auf die Nerven. Aber ich hatte nicht den Mut, es ihr zu sagen. Wenn sie merkte, daß mir etwas an ihr nicht recht war, geriet sie gleich in die größte Verzweiflung und fragte mich so lange aus, bis ich vorzog, alles abzuleugnen, nur um nicht ihre unglücklichen Augen sehen zu müssen. Bei einem bestimmten Anlaß konnte ich mich aber doch nicht enthalten, ihr meinen Verdruß zu zeigen. Da wohnte in einer Winkelgasse der inneren Stadt ein greises Ehepaar namens Schlemm, das auf schwer feststellbare Weise mit einem abgestorbenen Zweig der westfälischen Lottelotts zusammenhing; denn es gab auch kölnische Lottelotts. Diese Schlemms waren unsagbar langweilige Personen; er schwerhörig und schwachsinnig, sie geschwätzig wie eine Henne. Ganna machte ihnen den Hof, redete ihnen nach dem Mund, streichelte ihnen die runzligen Hände, sagte Onkelchen und Tantchen, schwärmte von ihrer weisen Abgeklärtheit und ihren herrlichen Charakterköpfen. Eines Tages ließ ich mich bereden, mit ihr zu Schlemms zu gehen. Sie sagte, die lieben Alten hätten nur den einzigen Wunsch, mich vor ihrem Tode einmal zu sehen. Das hatte sie sich so ausgedacht. Nun, ich ging mit ihr hin, was verschlugs. Es war wie in einem Marionettentheater, wo die Puppen das alleridiotischste Zeug reden. Die halbe Stunde nahm kein Ende. Geradezu qualvoll war mir aber Gannas gerührte Zerflossenheit. Ich begriff sie einfach nicht. Wo war das Motiv? wo der Sinn? zwei seelenlose, alberne Gerippe, und dieser Aufwand an Gefühl? »Sie tun mir so leid,« entschuldigte sie sich nachher, als ich meinen Ärger nicht bezähmen konnte, »Onkelchen hat immerfort Leberschmerzen, und Tantchen pflegt ihn schon seit dreiundvierzig Jahren.« Sie sah mich mit einem schmelzend-bittenden Blick ihrer großen blauen Augen an, und mir wurde ein wenig bang, ich wußte nicht recht wovor.

Der Ehevertrag

Zwischen Weihnachten und Sylvester, einige Tage vor Anbruch des Jahres 1901 und damit des zwanzigsten Jahrhunderts, wurde ich vom Anwalt der Familie Mewis zu einer benannten Stunde in dessen Kanzlei gebeten. Als ich hinkam, war der Professor bereits da, der Advokat, ein forschtuender Herr mit einem Feldwebelgesicht, begrüßte mich nicht ohne Feierlichkeit, und auf einem lederbezogenen Kanapee, wo er sich einen Platz aus Akten und juristischen Zeitschriften ausgegraben hatte, saß, eine Virginiazigarre im Mundwinkel, der Notar. Dieser überreichte mir ein kalligraphisch vollendet ausgeführtes Dokument, damals waren Schreibmaschinen in den Kanzleien noch nicht im Gebrauch, und dieses Schriftstück hatte ich durchzulesen. Ich gab mir Mühe, es zu tun. Die Höhe der Mitgift war ziffernmäßig bezeichnet; die vermögensrechtlichen und eherechtlichen Bestimmungen waren in einem vollkommen unverständlichen Deutsch abgefaßt. Es stand auch etwas da von einer Widerlage im Fall der Ehetrennung. Was das Wort zu bedeuten hatte, wußte ich nicht. Da ich nicht fragte, fand sich niemand bemüßigt, mich aufzuklären. Es langweilte mich. Ich unterschrieb. Ich dachte: der Professor ist ein Ehrenmann, weshalb sollte ich nicht unterschreiben? Es erschien mir nicht anständig, zu fragen. Fünfundzwanzig Jahre später erfuhr ich, was ich unterschrieben hatte. Ein Vierteljahrhundert verstrich, bevor mir ein Licht darüber aufging, daß man mich hineingelegt hatte. Im Geist der Familie natürlich und durchaus loyal. Ich hätte ja fragen können. Ich hätte ja auch meinerseits zu einem Anwalt gehen können. Aber dergleichen kam mir gar nicht in den Sinn. Es war das erste Mal, daß ich mit einem Notar zu tun hatte. Ein Notar, dachte ich, das ist das Gesetz in Person, da kann einem nichts geschehen. Dafür mußte ich büßen.

Riemann

Mit unbehaglicher Verwunderung hatte ich wahrgenommen, daß die Freunde, mit denen ich bis jetzt verkehrt, sich von mir zurückgezogen, auch Fürst und Muschilow gebrauchten allerlei Ausflüchte, wenn ich ihnen ein Beisammensein vorschlug. Ich ahnte natürlich den Grund; sie billigten meine Heirat nicht, allerlei Klatsch und Gerede über Ganna war unter ihnen im Gang, einer schrieb mir sogar einen empörten Brief, worin er mir, fast wie Fedora, die Freundschaft kündigte und die impertinente Bemerkung machte, daß ich im Begriff sei, mich wegzuwerfen. Ich schmiß den Brief ins Feuer. Schmerzlicher berührte es mich, daß Eduard Riemann mich seit einiger Zeit mied, ich wollte eine Aussprache herbeiführen, und da ich wußte, daß er allabendlich im Schachclub war, zu dessen Mitgliedern ich gehörte, ging ich eines Nachts hin, es war schon reichlich spät, bat ihn in ein Zimmer, wo wir allein waren und stellte ihn klipp und klar zur Rede. »Ich weiß, was Sie gegen mich haben,« begann ich heftig, »die gute Fedora hat Sie aufgehetzt. Ich verstehe nichts, nichts, nichts. Es ist eine Verschwörung. Wodurch hat sich Ganna eure Ungnade zugezogen? Genügt es nicht, daß ich sie liebe? hätte ich erst euern Consens erbitten sollen?« – »Die Frage stellt sich nicht so, mein lieber Alexander,« erwiderte er mit seiner komisch nasalen Stimme, »so liegen die Dinge nicht. Sie haben ein paar Dutzend Freunde, hier und anderswo, die Ihren Weg mit ganz bestimmten Erwartungen verfolgen. Sehr hohen Erwartungen. Denen ist der Gedanke, daß Sie sich verkaufen, verzeihen Sie, daß ich es so unverblümt heraussage, schwer erträglich.« – »Verkaufen? Riemann! Das kann doch nicht Ihr Ernst sein. Verkaufen! Bedenken Sie doch, was Sie reden!« – »Was sollen wir uns aber vorstellen? Wir finden nicht, daß Ganna Mewis die Frau ist, die zu Ihnen paßt.« – »Warum nicht?« – »Das läßt sich allerdings nicht erklären. Wir fürchten für Sie. Sie kommen in eine falsche Bahn. Sie kommen in ein falsches Milieu. Wir fürchten, daß Sie gegen Ihre Überzeugung handeln.« – »Es gibt keinen Preis der Welt, Riemann, für den ich mich, wie Sie es nennen, verkaufen würde. Kennen Sie mich nicht? Muß das erst beteuert werden?« – »Direkt würden Sie es gewiß nicht tun.« – »Wie denn indirekt?« – »Die Formen sind oft sehr verschleiert, die Möglichkeiten der Selbsttäuschung unbegrenzt.« – »Ich habe mich redlich und lang geprüft.« – »Glaub ich Ihnen ohne weiteres. Trotzdem: machen Sie es ungeschehen. Fahren Sie auf und davon. Jetzt. Sofort. Fahren Sie nach Indien, nach Kapstadt, wohin Sie wollen, und wenn Sie die Mittel nicht haben, ich stelle Ihnen jede Summe zur Verfügung. Ich übernehme auch die Lösung der Angelegenheit.« – »Aber Mensch! Um Gotteswillen! Was für ein Unsinn! Dazu ist es auf alle Fälle zu spät.« – »Bestreite ich.« – »Ich... ich kann aber ohne Ganna nicht leben.« – »Das ist etwas anderes, aber ich glaube es nicht.« – »Was soll das alles, Riemann? Ich bin ja nicht angeschmiedet. Geht die Sache schief, kann ich immer noch Schluß machen.« – Riemann betrachtete mich mit seltsamer, wohlwollender Ironie. »Sie werden niemals ein Menschenkenner sein, Alexander,« sagte er, »meinen Sie wirklich, daß es da ein Loskommen gibt?« – Ich war bestürzt; ich wollte zornig aufbrausen, aber er fuhr gelassen fort: »Und noch etwas, mein Bester. Haben Sie sich einmal die Mutter genau angesehn? Die Frau ist psychisch schwer irritiert. Und da drücke ich mich noch schonend aus. Eine solche Erbbelastung... gewiß, es sind viele Kinder... aber Ganna ist von der absteigenden Linie. Ihr seelisches Gleichgewicht... ich weiß nicht... wenn man Augen dafür hat...« – Die Andeutung war mir peinlich. Ich schob das Argument von mir weg. Leider habe ich das bei unbequemen Argumenten stets getan. »Darüber will ich nicht nachdenken,« erklärte ich, »das führt zu weit, das hieße, Gott ins Handwerk pfuschen.« – »Das können wir ohnehin nicht lassen, lieber Freund, das ist seine Manier, uns in Bewegung zu bringen.«

In dieser Nacht ging ich nicht mehr zu Bett. Erst lief ich durch Wind und Schnee ziellos durch die Gassen, dann saß ich bis zum Morgengrauen in einer Vorstadtkneipe, wo Fuhrleute und Marktweiber verkehrten.

Geschenke

Ich stand mit Ganna vor den aneinandergeschobenen Tischen, auf denen die Hochzeitsgeschenke zur Schau gestellt waren. Da gab es grellbunte Sofakissen mit sezessionistischen Mustern, abenteuerlich geformte Lampenschirme, verdrehte Bronzefiguren, metallene Frösche und Hunde als Kerzenhalter, Stephansturm und Medizäergrab als Briefbeschwerer, Nymphen mit Löchern im Kopf als Parfümflaschen, venetianische Gondeln als Schreibtischgarnituren, Photographierahmen mit goldenen Tannenzapfen. Daneben auch Nützliches, Praktisches, Bücher, Tafelsilber, Porzellan, Anweisungen auf Wäsche und Mobiliar. Wir wollten uns ja nicht häuslich niederlassen, sondern zunächst ein Jahr lang auf Reisen gehen. Ich war sehr erbaut von den Geschenken. Noch nie hatte ich über ein solches Warenlager von Habe verfügt, von richtiger Habe. Alles erschien mir schön, alles erschien mir gut. Freilich hatte ich nicht die Empfindung von Wirklichkeit. Was war mir denn wirklich? Nicht einmal mein Hemd, nicht einmal meine Schreibfeder. Die beständige schweigende Übereinkunft mit jenen, die das bloß Scheinende als Wahres nahmen, war ungeheuer anstrengend. Nicht nur das. Es kam mir bisweilen vor als mordete es etwas in mir. Ich wußte nicht, was es war, aber bestimmt mordete es etwas. Folgerichtigerweise konnten sie ja nicht anders, als das Wahre für Schein nehmen, es war ihre Natur. Hier, am Auslagentisch der Geschenke, quälte mich hinter all der törichten Sachfreude zum ersten Mal die Furcht, auch Ganna könnte an den fortgesetzten kleinen Mordversuchen beteiligt sein, sie, die ich führen, die ich in mein Leben aufnehmen sollte. Denn was bedeutete das Leuchten in ihren Augen, was bedeutete der Jubel? Gewiß, sie lebt mit zerteiltem Bewußtsein, halb unter den Menschen, halb unter den Sternen. Eine Prinzessin, die Hochzeit macht. Ein Märchenwesen, das in unbekannte Glückseligkeitsregionen entschwebt ist. Sie erkennt niemand mehr. Sie verwechselt Gegenstände mit Gesichtern und umgekehrt. Wenn man frühmorgens mit dem Gefühl erwacht, man ist eine Rose oder eine besonnte Wolke, kann man nicht in der gewohnten Sprache mit den Menschen verkehren, man stammelt, man redet ein wenig irre. Falsche Gotik, falsches Barock, falsche Renaissance: was kümmerte einen das? Es waren Liebeszeichen, Siegeszeichen. »Schau her,« sagte sie andächtig, »das ist von Tante Jettchen, und das von Onkel Adalbert, und das von der Hofrätin Pfeifer, wie lieb, daß sie daran gedacht hat!« Und Gannas Entzücken teilte sich mir mit, als hätte sie mir einen Zaubertrank eingegeben.

Die Hochzeit

Und der blieb auch am Tag der Hochzeit wirksam, einem schneedurchwirbelten Januartag. Meine Erinnerung, laßt mich nachdenken, ruft mir stundenlangen, unbeschreiblichen Lärm zurück. Kreischende Frauenstimmen, mißtönige Männerstimmen, Tellergeklirr, Stühlerücken, Pfropfenknallen, Bratengerüche, süßen und sauren Geschmack auf der Zunge, unabläßliches Auf und Zu von Türen und Kommen und Gehen, phrasenhafte Telegramme, Hände, die man drücken mußte, trockene und feuchte, fleischige und dürre, warme und kalte, rauhe und glatte, bewegliche und starre. Eine Trauungszeremonie, demütigend und verletzend, weil hohle Formeln sich anmaßten, die sittliche Freiheit zu beschränken wie wenn man einem Sträfling die Gefängnisordnung vorliest. Das Bild einer Ganna ferner, die weiß angetan schlafwandlerisch über dem Erdboden zu schweben schien und mit dem eigentümlich schamhaft wissenden Lächeln der konventionellen Bräute an der Tafel saß. Das Bild der Mutter auch, wie sie den Arm um meine Schulter legte, mich in eine Fensternische und auf eine dort befindliche Bank zog und, umtobt vom Getriebe, mit schreckhaft abirrenden Augen und unheimlichem Lachen krause, unerwartete Dinge sagte, Gespenst in einer Festversammlung, von niemand gehört und wahrgenommen außer von mir. Es war ein beharrender, weiterbohrender Eindruck.

Dann Tischrede auf Tischrede. Reden der Schwäger, die mit Bildung und Gelesenem prunkten; der Hausfreunde, die sich darauf vorbereitet hatten, witzig zu sein; eines Kollegen des Professors, von der philosophischen Fakultät, der wie bei einer Denkmalenthüllung mit Donnerstimme Gannas Tugenden pries; eines Feldzeugmeisters schließlich, leibhaftigen Generals, noch nie war ich mit einem General bei Tisch gesessen, der den »begabten und sympathischen jungen Gatten« hoch leben ließ und den Wunsch ausdrückte, er möge »fürderhin wie bisher auf der Bahn der Wissenschaft und Kunst fortschreiten«. Alles zusammen, überleg ichs heute, war wie der konzentrierte Abriß einer Sittengeschichte der Zeit. Leben des reichen Bürgers als Nachmittagsvorstellung unter Begleitung eines leicht angesäuselten Orchesters von vier Mann. Ich fühlte mich aber durchaus nicht als unbeteiligter Zuschauer. Ich war im Spiel, ich wirkte tätig und ergriffen mit. Als zuletzt die sechs Töchter und die eingesessenen Schwiegersöhne nebst einem halben Dutzend eigens zu dem Zweck herbeigeholter Enkelkinder am Stuhl des Professors vorüberdefilierten, um ihn nach seiner markigen Schlußansprache auf die Stirn zu küssen; als er sich dann erhob, ragend in ihrer Mitte, königlicher Patriarch und unumschränkter Herr des Krals, sodaß man im Geist die Geschlechterreihe bis ins nächste Jahrtausend fortgesetzt sah, zu welcher Zeit seine Person schon Sage und Symbol sein würde; und als Ganna, überwältigt von der Größe des historischen Augenblicks, ihm an die Brust sank und schluchzend für alles dankte, was er ihr gegeben, da war ich selber hingerissen und blickte zu dem rotbärtigen Stammvater empor wie zu meinem Schirmherrn.

Sodann hastiges Verschwinden, Aufatmen in frischer Winterluft, Fahrt zum Bahnhof in einem rumpelnden Wagen, allein mit Ganna, die jetzt Ganna Herzog hieß.


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