Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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Imst war hinter der Verbindungstür gestanden. Er war schon im Bett gelegen. Das Geräusch der Schritte und verschiedenen Stimmen hatte ihn aufgetrieben. Er hatte die Matratze entfernt und an der Tür gehorcht. Als es ruhig geworden war, öffnete er leise die Tür. Er schloß sie nur bis auf einen Spalt. Das durch diesen aus seinem Zimmer hereinfließende Licht erzeugte eine schwache Dämmerung in Jeannes Zimmer. Auf Zehen ging er zu ihrem Bett. Er sah sie lange Zeit an. Er konnte sich nicht sattsehen. Es war ein faltenloses, ein kindliches, ein leidensloses Gesicht. Zehn Jahre waren darin ausgelöscht. Was war geschehen? Wie hinuntergezwungen legte er sich an ihre Seite. Er wartete und wartete mit klopfenden Pulsen; sie erwachte nicht. Er kehrte ihr das Gesicht zu und murmelte gepreßt und schier atemlos: »Jeanne... Jeanne... hörst mich?... hör mich doch, Jeanne.« Sie erwachte nicht. Kerkhoven, Meister des Schlafs, hatte ihr Bewußtsein gefesselt. Ihre Seele war zu tief in die Schlünde der Erschöpfung gefallen und lag dort wie in einem unzugänglichen Felsenloch. »Jeanne,« murmelte er und krampfte die Finger in das Kissen, auf dem ihr Kopf ruhte, »sie ist tot, die Selma, seit sieben Jahren tot, du brauchst dich nicht vor ihr zu fürchten, Jeanne... hör mich doch, Jeanne...« Sie erwachte nicht. Sie seufzte dumpf und schlang die Arme um seinen Hals, erwachte aber nicht. Er drückte sie mit einem kurzen, wilden Aufschrei an seine Brust; sie erwachte nicht. Er begann an allen Gliedern zu zittern, der ganze Körper war naß von Schweiß, auf einmal sprang er auf, verstört, verzweifelt, impotent, und stürzte in sein Zimmer zurück. Jeanne erwachte nicht...


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